Gastbeitrag von Kurt Edler: Zwischen den Mühlsteinen der Modernisierung

Überlegungen zu den Ursachen des Niedergangs der Sozialdemokratie

Die Bundesrepublik, so will es das Grundgesetz, „ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“, und diese Staatszielbestimmung macht aus jedem von uns demokratischen Akteuren cum grano salis einen Sozialdemokraten. Vom „rheinischen Kapitalismus“ bis zu Angela Merkel und über sie hinaus gibt es die Vorstellung, dass Demokratie ohne soziale Gerechtigkeit nicht geht. Parteien, die den Eindruck erwecken, sich von diesem Ideal zu weit entfernen zu wollen, sind – wie die FDP – immer in Gefahr, sich ins moralische Abseits zu stellen.

Die Idee der sozialen Gerechtigkeit bedeutet ordnungspolitisch die Gewährleistung ausgeglichener Lebensverhältnisse. Damit verbindet sich die Vorstellung, dass, wer arm ist, im Hinblick auf Menschenwürde und Bürgerfreiheit Schaden erleidet. Eine Partei der sozialen Gerechtigkeit muss also die Gesellschaft als Solidargemeinschaft begreifen, verbunden mit dem Auftrag, Armut durch Kompensation zu verhindern. Eine Partei der Arbeit propagiert den Respekt vor der menschlichen Lebensarbeitsleistung und hat ein kritisches Verhältnis zu all denjenigen, die auf Kosten der Allgemeinheit leben, ohne unverschuldet bedürftig zu sein. Und sie betrachtet den Menschen als schaffendes Wesen: Ohne die Möglichkeit zu arbeiten und sich nützlich zu machen, kann er nicht glücklich werden.

Sozialdemokratie in Europa: Heute eine politische Leerformel?

Überall in Europa und auch anderswo verliert die Sozialdemokratie ihre Seele, weil sie diese Ideale nicht mehr in Politik übersetzen kann. Ihre Krise ist also viel ernster und existenzieller als es ihre prominenten Vertreter darstellen. Es ist keineswegs nur eine Krise der „Strategie“, der Kommunikation oder der Koalitionspolitik. Wer sich in politischen Zirkeln mit Profis über die Frage unterhält, welchen Rat man den Sozialdemokraten geben könnte, aus ihrer Krise herauszukommen, wird kaum Antworten erhalten. Führende Sozialdemokraten hüllen sich in Schweigen. Die peinlichen Auftritte von Andrea Nahles dagegen sprechen Bände. Mit dröhnend guter Laune, Zweckoptimismus und Durchhalteparolen ist jedoch nichts gewonnen. Es geht um einen politischen Identitätsverlust. Was ein Sozialdemokrat mental ist, lässt sich kaum noch definieren, was er als politischer Praktiker ist, gar nicht. Wenn man am politischen Strand so nackt dasteht, wirkt die Rede von der nötigen „Profilschärfung“ wie das verzweifelte Ausschauhalten nach einem Bademantel.         

Wo die Funktion verlorengegangen ist, scheint ein Programm auch nicht mehr zu helfen. Die Funktion der Sozialdemokratie des Godesberger Programms war, große Massen „kleiner Leute“ mit einer materiellen Hoffnung und einem Lebensentwurf auszustatten, der Gerechtigkeit als Gleichheit definierte. Aber nicht nur als Gleichheit, sondern auch als kulturelle Gleichförmigkeit. Es ging nicht nur um den freien Samstag, sondern um den Schutz eines Milieus. Auch nach dem Marxismus aus sozialistischer Zeit gab es ein soziokulturelles Wir, das man als nicht-sozialdemokratischer Linker oder als Grüner zu spüren bekam und das die Gesellschaft z.B. in Hamburg tiefgreifend geprägt hat. Da war auch ein Besitzerstolz auf das Erreichte – die feste Mehrheit in der Bürgerschaft, von der uns Hans Saalfeld als SPD-Altvorderer einmal so bewegt erzählte, die Parteidominanz in der „Einheitsgewerkschaft“, die Wohnungsbau-Genossenschaften, die Schrebergärten, das breite Feld an ehrenamtlich getragenen Organisationen.

Haben die Sozialdemokraten den Anschluß schon vor Jahren verpaßt?

Wir Großstadtgrünen, die wir zumeist aus der radikaleren Linken kamen – links von der SPD -,  schauten auf diesen Machtkomplex als jugendliche Herausforderer, mit der Arroganz und Respektlosigkeit, die solchen Leuten in der Regel eigen ist. Heute wäre ich vorsichtiger. Gewiss, da war an der Basis der SPD auch viel Gesinnungstreue, eine emotionale Anhänglichkeit vieler „einfacher“ Leute, die durch unsere komplizierten Argumente nicht erreichbar waren. Aber diese Erdung basierte natürlich auch auf der positiven Erfahrung einer einigermaßen gerechten Ordnung. Und während sich zu Helmut Schmidts Zeiten die führenden Genossen längst auf einen Paradigmenwechsel vorbereiteten, konnte man an der Basis noch lange Zeit so manches sozialistische Gemüt antreffen. Ich erinnere mich an eine Diskussion, die ich irgendwann, als ich selber schon grüner Realo war, an der Sternschanze mit ein paar jungen Leuten hatte. Sie argumentierten irgendwie trotzkistisch, so empfand ich es, waren aber, wie sie mir dann zu meiner völligen Überraschung offenbarten, SPD-Mitglieder.

In autoritativ und harmonistisch geprägten Parteien gehen die Neuerungen von den Eliten aus. Sie sehen halt den Veränderungsbedarf viel eher als die an ihren mentalen Gewohnheiten und ihren Strukturtraditionen klebende Basis. Funktionäre solcher Parteien unterschätzen oft, wieviel von dem internen Umgang mit Menschen nach außen dringt. „Da möchte ich kein Mitglied sein“, ist dann oft als Stoßseufzer zu hören. Oder, als Frage an einen „Genossen“: „Wie hältst du das dort bloß aus?“ Wenn wir heute Zwischenbilanz ziehen, zu einem Zeitpunkt, wo die SPD bei Wahlprognosen zum Bundestag gerade mal noch 15 Prozent hat, dann können wir vielleicht sagen: Die Sozialdemokratie hat sich unter Neuerern wie Gerhard Schröder programmatisch modernisiert, strukturell aber nicht. Die sich emanzipierende Zivilgesellschaft ist an ihr vorbeigezogen. Das gilt auch für andere Parteien: Im Alltag gesellschaftlichen Engagements erlebt der Akteur Freiheiten und Handlungsspielräume, die ihm innerparteilich meistens verwehrt sind. Eine kritische Prüfung der persönlichen Selbstwirksamkeit ist für viele junge Leute der Grund dafür, keiner Partei beizutreten, sondern eine modernere, demokratischere Form zu wählen. Das heißt auch: Die „Altpartei“ ist kein Vorbild für die gereifte, selbstreflexive Demokratie[i] mehr, sobald es um ihre interne Organisationspraxis geht. Daran ändern auch medial inszenierte Mitgliederplebiszite nichts.

Wir können also die Frage, ob die SPD zum Opfer ihres eigenen Modernisierungskurses unter „Auto-Kanzler“ Schröder geworden ist, gar nicht so pauschal beantworten. Die Agenda-2010-Politik hat den Wirtschaftsstandort Deutschland gestärkt – und zugleich die „working poor“ vermehrt. Das ist die eine Seite. Wählbar war sie jenseits ihrer Basis für viele Bürger nur durch ihre Wirtschaftsfreundlichkeit und durch ihre Emanzipation vom Sozialismus. Das ist die andere Seite.

Politischer Erfolg nur durch Personalisierung?

Es geht also um die Akzeptanz. Dabei stoßen wir immer wieder auf das Phänomen, dass die Parteiführer beliebter sind als ihre Parteien. Es findet eine Personalisierung statt, die in der Kanzlerdemokratie ein präsidiales Missverständnis aufkommen lässt und die Abneigung gegenüber den Parteiapparaten noch weiter verstärkt. Parteichefs, die sich kritisch gegenüber ihren Vorständen geben und sich mit strukturkonservativen Parteiflügeln zanken, sind beim Volk beliebt. Gerhard Schröder und Joschka Fischer erzielten mit dieser sonderbaren Variante von Führer-Autonomie höchste Beliebtheitswerte. Leider haben die Parteien sich nie gefragt, ob das nicht ein Zeichen künftigen Unheils sein könnte. Martin Schulz hat mit seinem kometenhaften Aufstieg und raschen Verglühen vor der letzten Bundestagswahl ein Beispiel dafür gegeben, dass sich diese Beliebtheitsausschläge noch steigern lassen, ohne dass es am Ende der Partei hilft. Joschka Fischer hat seine Partei nach 2005 ihrem Schicksal überlassen, und sie ihrerseits hat die Fischer-Jahre einer kollektiven Amnesie ausgeliefert – übrigens in der jungen Parteigeschichte eines ihrer bemerkenswertesten Tabus. 

„Das Volk“, sagt Tucholsky, „ist doof, aber gerissen.“ Aber, könnten wir Heutigen einwenden, wohl längst nicht mehr so doof wie in den 1920er Jahren. Die deutsche Demokratie erlebt keine Erschütterungen von dem gleichen Ausmaß wie im United Kingdom, in Frankreich oder in den USA. Gerade bei den drei ehemaligen Westalliierten vollziehen sich Umbrüche im Parteiensystem und Destabilisierungen durch populistische Demagogen, die unter Demokraten weltweit Beunruhigung auslösen. Es wäre ratsam, die Defensive, in die die US-Demokraten geraten sind, aber auch z.B. das Abschmelzen des republikanischen und des sozialistischen Lagers in der französischen Nationalversammlung oder die seltsamen Deformationen der britischen Labour Party (Pro Brexit / Antisemitismus-Skandal) genauer zu analysieren. Dabei könnte ein Blick auf die fatalen Auswirkungen der Identitätspolitik ratsam sein, die in den letzten zehn, zwanzig Jahren immer stärker zu einem Grundmuster der Politik geworden ist – auf der Linken wie auch auf der Rechten.[ii]                     

In die Krise geraten ist das inklusive Wir der Demokratie. Nicht mehr „Bürger“, „Brüder“, „Genossen“ lautet die Ansprache, die in der Lage ist, sich an eine heterogene Allgemeinheit zu wenden – im Gegenteil, um sich gegriffen hat die Lust, sich im öffentlichen Raum unter Herkunftsgesichts-punkten zu zerlegen und aufeinander einzuprügeln. Entlang ethnischer, nationaler, religiöser, genderspezifischer, sprachlicher oder sonstiger Trennlinien treten sich Minderheiten gegenüber und halten ihr exklusives Wir hoch. Jede dieser Minderheiten trägt dabei ihr eigenes Opfer-Narrativ vor sich her und verlangt Kompensation. Verloren geht die Erkenntnis, dass ein demokratisches Zusammenleben nur möglich ist, wenn wir von unseren Herkunftsbesonderheiten, weltanschaulichen Zugehörigkeiten und natürlichen Merkmalen absehen.

Bleibt das sozialdemokratische Narrativ in der Vergangenheit verhaftet?

Vor diesem Hintergrund besteht das besondere Dilemma des sozialdemokratischen Narrativs darin, dass es einerseits das alte kämpferische Wir der Arbeiterbewegung in sich aufbewahrt (das neu gerechtfertigt zu sein scheint durch die sozioökonomischen Verwerfungen, die die Globalisierung mit sich bringt), sich andererseits jedoch nicht auf eine Minderheitenstrategie einlassen kann. In den heftigen Kontroversen der gegenwärtigen Politik z.B. über Lebensform, Umweltschutz oder Migration kann sich die Sozialdemokratie nicht klar positionieren, ohne sofort weitere Anhänger zu verlieren. Sie steht mit dem Tableau ihrer Politikvorschläge gewissermaßen „quer“ zu den grellen Rubriken der Identitätspolitik. In all diesen Rubriken, von Migration und Religion über Gender bis hin zu gesunder Lebensweise und korrektem Sprechen, muss die Sozialdemokratie auf einen breiten Meinungspluralismus in ihrer Anhänger- und Mitgliederschaft Rücksicht nehmen. Auf die klassischen Ressortthemen fällt auf der Bühne des Populismus jedoch nur wenig Licht. Sie gelten denjenigen, die vom Fieber der politischen Emotion gepackt sind, als sekundär oder sogar als Ablenkung vom eigentlich Wichtigen. Demokratische Parteien, die – wie die CSU – anfällig für Populismus sind, geben diesem Trend nach; sie bescheren uns z.B. ein „Heimatministerium“.

Sind die Grünen die historischen Erben… ?

Die Grünen haben es in diesen identitätspolitisch aufgeladenen Zeiten leichter. Während die Sozialdemokratie zwanzig Jahre brauchte, um die Bedeutung der ökologischen Frage zu kapieren, und jahrelang nur eifersüchtig auf die Grünen schielte, haben diese ihre Karriere mit dem Menschheitsthema Naturschutz angefangen und ihre Kompetenz ständig weiter ausgebaut. Sie sind ausgesprochen populismusresistent und können andererseits auf der Klaviatur der Minderheitenpolitik spielen, weil sie auf eine eigene Tradition der Vertretung von Minderheiten zurückblicken. Sie haben zu Zeiten, wo dies noch richtig Stimmen gekostet hat, Radfahrer gegen den Autowahn verteidigt, Ökobauern gegen Agrobusiness und Schwule gegen Diskriminierung.

Ich greife diese drei Beispiele willkürlich heraus, um an ihnen zweierlei zu verdeutlichen.

Zum einen man kann Minderheitenanliegen ohne Identitätspolitik verteidigen, und zwar, wenn zumindest folgende beiden Bedingungen erfüllt sind. Erstens muss sich in diesen Anliegen ein allgemeines gesellschaftliches Interesse widerspiegeln. Zweitens darf es nicht so formuliert sein, dass Hass gegen „gegnerische“ Gruppen gepredigt wird. Die Grünen haben sich in ihrem Gründungskonsens auf die politischen Merkmale „ökologisch – sozial – basisdemokratisch – gewaltfrei“ festgelegt und erwiesen sich damit, vor allem durch die Gewaltfreiheit, als ziemlich immun gegen eine politische Strategie, die gesellschaftliche Gruppen gegeneinander in Stellung bringt. Das Gewaltfreiheitspostulat war 1978 auch abgrenzend gegen die militante Linke gerichtet, mit ihrer Speerspitze RAF.

Was sich aber außerdem zeigt: Sozialdemokraten standen in allen drei Fällen auf der falschen Seite. Sie verteidigten das konservative, ja reaktionäre Weltbild ihrer gesellschaftlichen Basis. Gegen das heilige Auto, gegen die geliebte Currywurst zu reden, über Homosexualität zu sprechen – das hätte vielen SPD-Funktionären Anfang der 1980er Jahre im eigenen Kreisverband den Kopf gekostet. Mit dem Outing als schwul hat es bei denjenigen, die es betraf, noch Jahre gedauert.             

Fazit unserer Betrachtung ist also, dass der Niedergang der Sozialdemokratie damit zu tun hat, dass sich in Arbeitswelt und Wirtschaft, in der Soziokultur und in der organisierten demokratischen Gesellschaft derart umwälzende Veränderungen abgespielt haben, dass sie in das sozialdemokratische Wertegefüge und Strategiekonzept nicht mehr integrierbar sind, ohne dass damit der „Markenkern“ verblasst. So scheint eine altehrwürdige politische Strömung, ohne die die Entstehung eines sozial verfassten Europas gar nicht vorstellbar gewesen wäre, zwischen den Mühlsteinen der politischen und kulturellen Modernisierung zerrieben zu werden.

Kurt Edler (Hamburg)


[i] Vgl. Pierre Rosanvallon: Demokratische Legitimität. Unparteilichkeit – Reflexivität – Nähe. Hamburg 2010.  

[ii] Johannes Richardt (Hrsg.): Die sortierte Gesellschaft. Frankfurt (Novo Argumente) 2018.

Kurt Edler entfaltete erste politische Engagements in der GEW, in die er 1972 eintrat, in der studentischen Selbstverwaltung der Universität Hamburg und in der Anti-Atomkraft-Bewegung. 1981 war er Mitbegründer der Alternativen Liste Hamburg (AL) und der Grün-Alternativen Liste (GAL). Innerhalb der Partei war er von 1988 bis 1990 im GAL-Landesvorstand tätig. 1990 war er an der Gründung der GAL-Abspaltung “Grünes Forum“ beteiligt, die sich aus Protest gegen die Abgrenzung der Mehrheits-GAL gegen die demokratische Bürgerrechtsbewegung in der DDR gebildet hatte. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands sowie der Vereinigung der Grünen mit dem Bündnis 90 war Edler erneut Mitglied im Landesvorstand. Von 2000 bis 2001 war er zusammen mit Antje Radcke Vorstandssprecher der GAL Hamburg. Er war Mitglied der Rechtsextremismus-Kommission, die beim Bundesvorstand Bündnis 90/Die Grünen bis 2008 bestand.
Von 2008 bis 2017 war Edler Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik und von 2009 bis 2018 von der Kultusministerkonferenz beauftragter Länderkoordinator im Programm „Education for Democratic Citizenship and Human Rights“ beim Council of Europe.

2 Kommentare zu „Gastbeitrag von Kurt Edler: Zwischen den Mühlsteinen der Modernisierung

  1. Zur Krise der SPD

    Ist die SPD überflüssig geworden, weil sie einen Pragmatismus zeigt, der mit kleinen Differenzen auch von Merkels CDU-Flügel kommen könnte? Oder hat die SPD im Zuge der Globalisierung und der Differenzierung der Gesellschaft ihre strukturellen Milieus verloren? Drei Milieus lassen sich zusammenfassen, aus denen sich in den letzten Jahrzehnten weitgehend die SPD-Wählerschaft rekrutierte: die Kleinen Leute, die häufig gewerkschaftlich organisierte Facharbeiterschaft, Intellektuelle und solche, die sich an den Aufbruch in den 60er und 70er Jahren erinnern.
    Von allen drei Milieus hat sich die SPD durch die pragmatische Modernisierung unter Schröder distanziert: durch die Orientierung am Neoliberalismus, an Deregulierung und Privatisierung und in der Sozialpolitik an der Agenda 2010. Die Idee dahinter würde von der FDP ähnlich formuliert werden: Florierende Wirtschaft, quantitatives Wachstum würde Arbeitsplätze bringen.

    Es gibt noch das Milieu der Kleinen Leute, des Prekariats, der Niedriglöhne. Aber die SPD hat deren Interessen nicht genügend vertreten. Die Langzeitarbeitslosen, die Globalisierungsverlierer sollten durch Fördern und Fordern wieder an einer dann modernisierten Wirtschaft teilhaben. Das ist nicht gelungen, weil einerseits der Markt es nicht hergab, andererseits viele aus dem Prekariat subjektiv nicht in der Lage waren, den neuen Anforderungen zu genügen. Es gab noch nie so viele sozialversicherungspflichtige Jobs, der Markt scheint also doch gewirkt zu haben. Aber knapp 20 Prozent dieser 45 Millionen Arbeitnehmer arbeiten im Niedriglohnsektor oder als Minijobber. Und fühlen sich dadurch häufig abgehängt. Mehrere Millionen Haushalte sind auf staatliche Grundsicherung angewiesen. Und was hat die SPD dagegen getan? Sie hat eine Erhöhung der Hartz IV-Bezüge zusammen mit der Union verweigert. Statt dessen zugestimmt, dass für 10 Euro Kinder mittels bürokratisch organisiertem Teilhabepaket Klavierstunden erhalten können…. Die Reparatur bestimmter Härten in der Agenda 2010 (wie z.B. die Rücknahme der Erhöhung des Rentenalters für bestimmte Arbeitnehmer) konnte nur als Einknicken angesichts der bröckelnden Basis, angesichts der massiven Wahlverluste verstanden werden, nicht als grundlegende, ehrliche Selbstkritik der Partei. Der Wähler droht mit Konsequenzen, weshalb taktische Korrekturen vorgenommen werden, um an der Macht zu bleiben. So erscheinen jetzt Kurskorrekturen, die Heil und Nahles für die Hartz-Gesetze ankündigen. Die Linke und die AfD haben aus solchen Gründen Wählerstimmen der SPD abgezogen.

    Die Gewerkschaften, weitgehend Teil der Sozialdemokratie, konnten in der letzten Zeit in einigen Branchen einige Verbesserungen für ihre Klientel erstreiten, aber die Hälfte der Betreibe hat sich aus dem Tarifvertragssystem verabschiedet. Die Erosion des sozialdemokratischen Milieus hat es auch in Richtung Mittelschicht gegeben: Warum soll ein gut verdienender Facharbeiter bei Daimler, der mit seinem Diesel-SUV nach sieben Arbeitsstunden zu seinem Reihenhaus fährt, SPD wählen, außer aus Tradition?
    TTIP oder Ceta wären vielleicht für solche Konzerne und ihre Arbeitnehmer von Vorteil gewesen, aber auch für Arbeitnehmer, deren Betriebe nicht auf der Höhe der Produktivität von multinationalen Konzernen ist? Am lauen Protest der SPD hinsichtlich einiger Auswüchse in diesen Abkommen kann man ablesen, dass die SPD keine pragmatischen Visionen für die Opfer von Umstrukturierungen und die Gefahren der Globalisierung hat. Ähnliches gilt für den Ausstieg aus der Braunkohle: Wieso gibt es von der SPD nicht längst ein Umstiegskonzept für die Arbeitnehmer?

    Meine Antwort auf diese Fragezeichen: weil der Neoliberalismus weiterhin in den Köpfen der SPD herumgeistert. Der Markt soll es richten. Die Kosten, die nicht marktwirtschaftlich zu veranschlagen sind: Arbeitslosigkeit, Umweltbelastung, Krankheiten, soziale Segregation muss die Gesellschaft tragen.

    Ich glaube auch, dass die SPD heute bei einer klareren Positionierung weitere Wählerstimmen verlieren würde: weil sie ihre Glaubwürdigkeit verloren hat; weil sie sich nicht getraut hat, z.B. den Einstieg in eine Bürgerversicherung durchzusetzen; weil sie 20 Prozent Kinderarmut hinnimmt; weil sie die Mietenexplosion nicht konsequent bekämpft, statt dessen Sozialwohnungen frühzeitig aus der Mietpreisbindung entlassen hat; weil sie ohne lange Verhandlungen der Union zugestimmt hat, dass Deutschland leider, leider die Klimaziele 2020 verfehlen wird…..usw.
    Deckelung der Ökostrom-Produktion zugunsten der fossilen Konzerne (und der ebenfalls anachronistischen Arbeitsplätze dort). Mit dem Misstrauen gegen „die da oben“ hat die SPD sich nicht konsequent auseinandergesetzt. Das Gerangel um Posten und Einfluss befördert noch die ohnehin kritische Haltung zur SPD und die Enttäuschung über ihre reale Politik.

    Konfliktvermeidung prägt die politische Pragmatik der SPD. Statt dessen soziales Pflaster hier und grüne Augentropfen da. Reparatur bestehender Strukturen statt visionäre Fortentwicklung, statt strategischer staatlicher Eingriffe. Und manche politische Einsicht kam bei der politischen Führung der Partei zu spät, wie die (zeitweilig anvisierte) Beförderung von Herrn Maaßen zeigte.
    Die SPD hat sich in dieser Rolle selbst gefangen, die mit der Regierungsfortsetzung verbunden war: Wir wollen ja Verbesserungen im Sozialen und in der Ökologie, aber die Union bremst. Oder zusammengefasst: Die SPD redet, vermag es aber nicht, wesentliche Kurskorrekturen in der Sozial-, Gesundheits-, Verkehrs- und Umweltpolitik anzugehen oder gar umzusetzen. Hinzu kommt: Die Europa-Politik des SPD-Finanzministers unterscheidet sich nicht wesentlich von seinem Vorgänger Schäuble. Doch ohne Länderfinanzausgleich innerhalb der EU, finanziert mit deutschen Überschüssen, die auch in der Euro-Konstruktion zugunsten Deutschlands entstehen, bekommen die EU-kritischen nationalistischen Kräfte Zulauf.
    Mit dem Versagen in diesen Politik-Bereichen hat die SPD auch einen großen Teil des dritten Milieus verloren, und zwar an die Grünen.

    Die Partei wird zwischen wirtschaftsliberalen und etatistischen, zwischen strukturkonservativen und ökologischen, zwischen freiheitlichen und freiheitseinschränkenden Positionen zerrissen. Die Pole dieser Konflikte sind jeweils von anderen Parteien besetzt.
    Vielleicht brauchen wir eine SPD in dieser Verfassung deshalb nicht mehr.
    Hans Dall, Hamburg, 3.1.19

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  2. Es gibt einen relativ einfachen Prozess, der das Gefühl von Ungerechtigkeit befeuert: Die Vermögensverteilung wird immer ungleicher. Das ist auch kein Wunder. 70 Jahre Frieden in Europa haben eine Erbengesellschaft geschaffen, die Internet-Gründerzeit hat die Entstehung von neuen Monopolen begünstigt, die Geld- und Finanzpolitik kommt tendenziell den Vermögenden zu Gute. Das ist weder neu noch unbekannt und es gibt zwei Mittel, die dagegen wirken könnten. Das eine ist die Umverteilung von oben nach unten, das andere ist ein Krieg. Die SPD müsste wohl auf ersteres hinwirken, aber das tut sie nicht. Bei 60 Workshops auf dem Debattencamp z.B. kommt das Thema Umverteilung noch nicht einmal vor. Dabei ist die Frage, wie das gelingen kann, für das Überleben unserer Gesellschaft existenziell. Kein Wunder also, dass die Menschen keinen Grund mehr sehen, SPD zu wählen. Wir werden wohl den nächsten Krieg abwarten müssen und dafür ist die AfD dann auch die rationalere Wahlentscheidung.
    Gruß
    Christian Lührs

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