Pazifisten für Putin

Karikatur: Klaus Stuttmann (Danke!)

Gegen Ende April 2022 wurde von einer Berliner Zeitung ein offener Brief einiger Intellektueller zu Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine veröffentlicht. Er ist vielleicht symptomatisch für einen Teil der pazifistischen deutschen Linken. Deswegen will ich ihn hier in Kursivschrift zitieren und meine Kommentare dazwischen schreiben. Vorwegschicken möchte ich, daß mindestens in Polen dieser Brief auf Entrüstung und wütende Ablehnung stieß. Das bezog sich nicht nur auf die Weigerung der Autoren, der Ukraine Waffen zu liefern, sondern auch auf die Forderung, die Sanktionen zu beenden. Polen verweisen darauf, daß Deutschland und Frankreich in den letzten Jahren die bereits bestehenden Sanktionen unterlaufen hätten, indem sie Rußland militärische Ausrüstungen lieferten. Wen wundert es da noch, daß nur 27% der Befragten einer aktuellen Umfrage in Polen darauf vertrauten, daß Deutschland ihnen im Falle einer russischen Aggression beistehen würde?

Hier nun der Brief mit meinen Kommentaren:

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,

wir sind Menschen unterschiedlicher Herkunft, politischer Einstellungen und Positionen gegenüber der Politik der NATO, Russlands und der Bundesregierung. Wir alle verurteilen zutiefst diesen durch nichts zu rechtfertigenden Krieg Russlands in der Ukraine. Uns eint, dass wir gemeinsam vor einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt warnen und uns gegen eine Verlängerung des Krieges und Blutvergießens mit Waffenlieferungen einsetzen.

Das Ziel, den Krieg zu beenden, ist unstrittig. Bedenklich und inakzeptabel ist aber die Beendigung eines Krieges auf eine Weise, die dem Aggressor einen Erfolg verschafft. Damit würden wir gleichzeitig die Ära der völkerrechtlich basierten internationalen Politik beenden, da wieder das Recht des Stärkeren vor der Stärke des Rechts gilt. Wenn man es zudem mit auf Expansion und Imperialismus orientierten Diktatoren zu tun hat, ist es zwingend notwendig, sie in ihre Schranken zu weisen, bevor der Krieg bis an die Haustür unserer Pazifisten gekommen ist. Wohin das Modell des Appeasement führte und führt, konnten wir sehen, können wir sehen.

Die Angst, ein Krieg könnte sich in der heutigen Situation eskalieren, müssen wir aushalten und durch nüchterne Betrachtung von Potentialen und Interessen thematisieren. Wenn wir ihr nachgeben, begeben wir uns in eine Zone der Angst, in der wir unsere Freiheit verlieren.

Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und weitere NATO-Staaten de facto zur Kriegspartei gemacht. Und somit ist die Ukraine auch zum Schlachtfeld für den sich seit Jahren zuspitzenden Konflikt zwischen der NATO und Russland über die Sicherheitsordnung in Europa geworden.

Auch in existentieller Gefahr sollten wir nüchtern bleiben und die Fakten gelten lassen. Nach dem Völkerrecht – und das ist doch der Maßstab, oder? – sind wir keine Kriegspartei, wenn wir Waffen verkaufen oder liefern. Wenn wir jetzt schon unsere Werte und Maßstäbe vor lauter Angst über Bord werfen, haben wir uns gedanklich schon ausgeliefert. Falsch ist es auch, von einem Konflikt zwischen NATO und Rußland zu schwadronieren. Bislang gingen die Aggressionen der letzten Jahre von Rußland aus. Nach dem Völkerrecht – Selbstbestimmungsrecht der Völker – kann jeder Staat souverän und frei entscheiden, welchen Bündnissen er beitritt. Wer sich einem aggressiven imperialistischen Nachbarn gegenüber sieht, ist schnell geneigt, ein starkes Bündnis einzugehen (siehe Finnland und Schweden). Wer das Völkerrecht mit Füßen tritt, der mag Rußland „seine“ Einflußzonen zugestehen. Wir aber nicht.

Dieser brutale Krieg mitten in Europa wird auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen. Der nun entfesselte Wirtschaftskrieg gefährdet gleichzeitig die Versorgung der Menschen in Russland und vieler armer Länder weltweit.

Auch hier wird offenbar nicht genau hingesehen, sondern nach ideologischen Vorurteilen formuliert. Gerade Deutschland hat über viele, zu viele Jahre mit Rußland gewirtschaftet, auch als klar war, daß die Profite aus der Wirtschaftskooperation in die Aufrüstung Rußlands und die Finanzierung seiner verbrecherischen Kriege in Europa, im Nahen Osten und offenbar auch in Afrika dienten. Also: Von einem „Wirtschaftskrieg“ zu reden ist die Sprachregelung des Kremls. Wir sind nicht mehr bereit, mit Rußland zu handeln und das Putin-Regime dadurch in die Lage zu versetzen, unermeßliche Zerstörungen und Morde zu begehen. Wenn Putin andere – friedliche – politische Ziele hätte, könnten wir uns gerne in der Bekämpfung des Hungers in der Welt gemeinsam engagieren. Ist aber nicht der Fall.

Zudem: Aus dem ganzen Text spricht ein defizitäres Demokratie-Verständnis: Wir haben für unsere Familie, für unseren Staat und für unsere politischen Bündnisse eine primäre Verantwortung und abgestufte Einflußmöglichkeiten. So unangenehm es ist, aber das russische Volk ist für die Gestaltung seines Staates letztlich selbst verantwortlich. Wenn ihr Staat andere überfällt, können wir die Russen nur begrenzt vor den Konsequenzen ihres Tuns in Schutz nehmen. Ihr diktatorischer Präsident wurde immerhin mehrfach gewählt, wenn auch keinesfalls unter „lupenreinen“ demokratischen Bedingungen.

Berichte über Kriegsverbrechen häufen sich. Auch wenn sie unter den herrschenden Bedingungen schwer zu verifizieren sind, so ist davon auszugehen, dass in diesem Krieg, wie in anderen zuvor, Gräueltaten begangen werden und die Brutalität mit seiner Dauer zunimmt. Ein Grund mehr, ihn rasch zu beenden.

Wer möchte den Krieg nicht sofort beenden? Doch angesichts der Kriegsziele des putinistischen Rußland, die in der Vernichtung des ukrainischen Staates und seiner (wahrscheinlich nicht vollkommenen) demokratischen Gesellschaft besteht, kann man nicht zurückweichen. Leider ist es sehr viel wahrscheinlicher, daß es die berichteten Kriegsverbrechen gab und es ist recht unwahrscheinlich, daß es sie nicht gab. Es entspricht nicht den Menschenrechten und unseren europäisch-transatlantischen Werten, Millionen von Menschen einem brutalen Unterdrückungsregime auszuliefern. Was einer ukrainischen Gesellschaft unter Herrschaft des putinistischen Rußland blüht, haben wir in den letzten Jahren in den von Rußland bereits seit 2014 besetzten Ostbezirken der Ukraine sehen können. Wer wollte es sehen? Offenbar unsere Briefschreiber nicht. Die ukrainische Zivilgesellschaft sah aber genau hin und sagte: Nie wieder! So nicht!

Der Krieg birgt die reale Gefahr einer Ausweitung und nicht mehr zu kontrollierenden militärischen Eskalation ‒ ähnlich der im Ersten Weltkrieg. Es werden Rote Linien gezogen, die dann von Akteuren und Hasardeuren auf beiden Seiten übertreten werden, und die Spirale ist wieder eine Stufe weiter. Wenn Verantwortung tragende Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, diese Entwicklung nicht stoppen, steht am Ende wieder der ganz große Krieg. Nur diesmal mit Atomwaffen, weitreichender Verwüstung und dem Ende der menschlichen Zivilisation. Die Vermeidung von immer mehr Opfern, Zerstörungen und einer weiteren gefährlichen Eskalation muss daher absoluten Vorrang haben.

Es ist gut, wenn wir aus der Geschichte lernen wollen. Doch auch hier gilt: Genau hinsehen. Wer den russischen Überfall von 2014/2022 auf die Ukraine mit der Situation von 1914 irgendwie vergleicht ohne zu sagen, daß sie unvergleichbar sind, weil die Gemeinsamkeiten sehr gering sind, desavouiert sich selbst ob seiner mangelhaften Geschichtskenntnisse. Hier wird nicht rational argumentiert, sondern hier werden Ängste geschürt. Auf den 1. Weltkrieg kann man das Modell einer Spirale der Eskalation vielleicht anwenden, auf den 2. Weltkrieg oder den putinistischen Überfall auf die Ukraine jedoch nicht. In den letzteren Fällen haben wir es mit einem Aggressor zu tun, der mit allen verfügbaren Mitteln vorging. Diesen Aggressor zu stoppen, sollte man in einem möglichst frühen Stadium versuchen. Im aktuellen Fall eben nicht erst, wenn Polen und die baltischen Staaten überfallen werden. Im Übrigen: Auch im Hinblick auf die „roten Linien“ schauen die Briefeschreiber nicht genau hin. Es werden derzeit eben keine roten Linien von den demokratischen Staaten gezogen, um jeden Eskalationsautomatismus zu vermeiden.

Im Hinblick auf die Wertehierarchie ist übrigens interessant, daß behauptet wird, eine „Vermeidung von immer mehr Opfern, Zerstörungen und einer weiteren gefährlichen Eskalation muss daher absoluten Vorrang“ haben. Damit unterliegen sie jedem Aggressor, der die Freiheit zerstört und die Gesellschaften unterdrückt. Die Ukrainer haben sich aber entschieden, daß es Werte gibt, die man verteidigen muß, um eine lebenswerte Gesellschaft zu haben. Das sehen die Briefschreiber offenbar anders, sollten es aber nicht den Angegriffenen aufzuoktroyieren versuchen.

Trotz zwischenzeitlicher Erfolgsmeldungen der ukrainischen Armee: Sie ist der russischen weit unterlegen und hat kaum eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Der Preis eines längeren militärischen Widerstands wird ‒ unabhängig von einem möglichen Erfolg ‒ noch mehr zerstörte Städte und Dörfer und noch größere Opfer unter der ukrainischen Bevölkerung sein. Waffenlieferungen und militärische Unterstütz­ung durch die NATO verlängern den Krieg und rücken eine diplomatische Lösung in weite Ferne.

Also, mal ehrlich, wir sind ja alle seit dem 24. Februar zu Militärexperten geworden, die Potentiale und Zahlen militärischer Strukturen locker verstehen und vergleichen können, nicht wahr? Spaß beiseite: Die ukrainische Armee kämpft erstaunlich erfolgreich und das zählt. Natürlich ist sie irgendwie der russischen unterlegen, doch hier zählt das Ergebnis: Die russische Armee hat sich im Westen vor Kiew zurückgezogen, im Osten kommt sie zwar voran, aber nicht im entferntesten so wie sie es plante, stellenweise wird sie von den Ukrainern wieder zurückgedrängt. Und: Sie hat große Verluste an Soldaten und Waffen. Die von den Russen angerichteten Zerstörungen sind immens, doch wer die Beispiele von Grosny und Aleppo kennt, ist nicht überrascht. Massaker und Mißhandlungen von Zivilisten gehören auch zum Arsenal der russischen Armee. Angesichts dessen zu fordern, den militärischen Widerstand aufzugeben, ist so paternalistisch wie zynisch. Die Ukrainer wissen, daß sich ihr Leben im Krieg nur in den Dimensionen des Schreckens vom Frieden eines Lebens unter putinistischer Herrschaft unterscheidet, nicht aber in der Qualität. Wenn sie bereit sind, militärischen Widerstand zu leisten und auch angesichts der Risiken und Folgen durchzuhalten, dann ist es nicht an uns, ihnen zu sagen, was sie tun oder lassen sollten.

Es ist richtig, die Forderung „Die Waffen nieder!“ in erste Linie an die russische Seite zu stellen. Doch müssen gleichzeitig weitere Schritte unternommen werden, das Blutvergießen und die Vertreibung der Menschen so schnell wie möglich zu beenden.

Die Forderung „Die Waffen nieder!“ an einen wie Putin zu richten, ist so naiv wie wirkungslos. Falls sie an die Ukrainer gerichtet sein sollte, so drückt dies auch eine Ignoranz gegenüber elementarsten (demokratischen) Werten aus. Wann der Angegriffene die Waffen aus der Hand legt, sollte er selbst entscheiden dürfen. Den gutmenschlichen Ruf: „Ergib‘ Dich!“ an ihn zu richten, spricht ihm das elementare Recht auf Selbstbestimmung ab und ich empfinde es auch als Ausdruck einer paternalistischen Besserwisserei, die in der politischen Linken recht weit verbreitet und von der Überzeugung getragen ist, zu wissen, was für den Anderen (hier: die Ukrainer) gut ist.

So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzig realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg. Der erste und wichtigste Schritt dazu wäre ein Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine, verbunden mit einem auszuhandelnden sofortigen Waffenstillstand.

Was hätte Churchill zu so einer Aussage im Sommer 1941 angesichts der damaligen Problemlage gesagt? Hätten er und Roosevelt auf die Unterstützung der Sowjetunion verzichten sollen, um den Krieg zu verkürzen? In einer Situation, in der alles Mögliche erkennbar ist, nur nicht der Wille des Aggressors, seine kriegerischen Handlungen zu beenden, ist die Forderung unserer Friedensfreunde ein kaum zu überbietender Ausdruck eines Versagens gegenüber einer moralischen Maxime: Jemandem Bedrängten zur Seite zu stehen, bis er den Bedränger wieder abschütteln kann und ihn stattdessen aufzufordern, sich auszuliefern.

Wir fordern daher die Bundesregierung, die EU- und NATO-Staaten auf, die Waffenlieferungen an die ukrainischen Truppen einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militär­ischen Widerstand ‒ gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung ‒ zu beenden. Die bereits von Präsident Selenskyi ins Gespräch gebrachten Angebote an Moskau ‒ mögliche Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle Chance.

Diese Forderung dient nur scheinbar dem Frieden, vor allem dem guten Gewissen derer, die sie aufstellen. Sie ist aus einer Haltung moralischer Überheblichkeit und einem kolonialistischen Blick auf die Ukraine formuliert, die alle Rechte des ukrainischen Volkes auf Selbstbestimmung und ein demokratisches und friedliches Leben mit Füßen tritt. Was die Ukrainer in die Verhandlungen einbringen und wann sie es einbringen, ist ihre Sache. Wir unterstützen sie, so wie sie es wollen und mit Augenmaß (!). Ignorant ist es zudem, immer noch den Eindruck zu erwecken, daß das putinistische Rußland sich an Verträge halten würde oder sich auch auf der Basis von Gesprächen zurücknehmen könnte. Dazu gibt es nach über 20 Jahren Putinismus leider keinen Anlaß. Vollkommen realitätsfern ist der Vorschlag für ein Referendum im Donbaß, nachdem die Bevölkerung dort vertrieben oder zwangsrussifiziert oder in Kerker gesteckt oder deportiert worden ist. So ein Referendum kennen wir von der Krim 2014 und ist deswegen erst dann denkbar, wenn Putins Armee und Söldner allesamt wieder in Rußland stehen. Hinter der ukrainischen Grenze. Unter Putins Stiefel wird jedes Referendum zur Farce. Also: Die Forderung ist in der jetzigen Lage völlig abwegig und stärkt Putins Position.

Verhandlungen über den raschen Rückzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine sollten durch eigene Vorschläge der NATO-Staaten bezüglich berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands und seinen Nachbarstaaten unterstützt werden.

Dazu kann man nur sagen: Verhandlungen oder Friedenslieder werden ähnlich effektiv die Russen wieder hinter ihre Grenzen bringen. Dazu bedarf es nach allen Erfahrungen etwas überzeugenderer Argumente (s.o. zur Vertragstreue). Der Linie russischer Desinformation wird gefolgt mit der Behauptung „berechtigter Sicherheitsinteressen“ Rußlands. Aus diesen „berechtigten Sicherheitsinteressen“ hat Rußland eine Vielzahl Kriege nach 1990 geführt, ich nenne nur ein paar Stichworte: Tadschikistan, Georgien, Tschetschenien, Dagestan, Kaukasus/Südossetien, Krim, Ukraine, Syrien, Kasachstan. Interessanterweise wurde Rußland nie von einem westlichen Staat oder der NATO angegriffen, sondern war immer der Aggressor. Wer also von „berechtigten Sicherheitsinteressen“ sprechen möchte, sollte zuerst die Sicherheitsinteressen der Nachbarstaaten Rußlands zur Kenntnis nehmen, die Rußland oft bedroht und auch mal überfällt. Kein Wunder, daß die Ukraine und Georgien in die NATO wollten, so wie es nun Finnland und Schweden machen wollen. Und: Die NATO dehnt sich nicht aus, sondern souveräne Staaten möchten beitreten. Wer das anders sieht, negiert das Völkerrecht und bedient die putinistische Propagandalinie.

Um jetzt weitere massive Zerstörungen der Städte so schnell wie möglich zu stoppen und Waffenstillstandsverhandlungen zu beschleunigen, sollte die Bundesregierung anregen, dass sich die derzeit belagerten, am meisten gefährdeten und bisher weitgehend unzerstörten Städte, wie Kiew, Charkiw und Odessa zu „unverteidigten Städten“ gemäß dem I. Zusatzprotokoll des Genfer Abkommen von 1949 erklären. Durch das bereits in der Haager Landkriegsordnung definierte Konzept konnten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Städte ihre Verwüstung verhindern.

Nach den Erfahrungen mit der Regeltreue Rußlands fragt man sich, wie die Briefschreiber noch auf die Idee kommen konnten, Rußland könnte sich ohne dazu mit militärischen Mitteln genötigt zu sein, an irgendeine Vereinbarung halten? Oder gar an das Genfer Abkommen? Butscha ist leider nicht der einzige Ort, an dem Kriegsverbrechen ganz offensichtlich geschahen. Die russische Armee führt ja auch keinen „Krieg“, an dessen Regeln man sich halten könnte, sondern agiert im Rahmen einer „militärischen Spezialoperation“ (echter NKWD-Sprech), in der Exzesse und Regellosigkeit die Regel sind. Wer also so eine Forderung – wie oben – aufstellt, fordert die Ukrainer auf, sich den Russen zu ergeben. Abwegig erscheint auch die Annahme, Kiew, Charkiw und Odessa seien „bisher weitgehend unzerstörte Städte“. Nun, wer Aleppo oder Mariupol als Maßstab nimmt, mag vielleicht zustimmen…

Die vorherrschende Kriegslogik muss durch eine mutige Friedenslogik ersetzt und eine neue europäische und globale Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas geschaffen werden. Unser Land darf hier nicht am Rand stehen, sondern muss eine aktive Rolle einnehmen.

Diese Floskeln sind wohl Konsens für Friedensbewegte, denen der Mut fehlt, „dem Rad in die Speichen zu greifen“, wie Dietrich Bonhoeffer das einmal formulierte. Wir hatten eine „europäische und globale Friedensarchitektur“ und die gilt es nun zu verteidigen und nicht nur zu beschwören. Wenn einer gegen diese völkerrechtliche Friedensarchitektur verstößt, ohne daß dies sanktioniert und zurückgewiesen wird, dann ist sehr schnell diese „Friedensarchitektur“ nur noch Makulatur. Wer glaubt, wie Chamberlain einen imperialistischen Aggressor stoppen zu können, der irrt sich. Erfolgreich war dann erst Churchill. Mit Mut und Augenmaß. Er hat ja dann auch wichtigen Einfluß beim Aufbau der europäischen und globalen Friedensarchitektur genommen.

Irritierend bleibt zum Schluß aber noch der Eindruck, daß hier deutsche Linke das putinistische Rußland irgendwie in Schutz nehmen und diesem autoritären und imperialen Staat irgendwie geartete Sympathien entgegenbringen. Den Ukrainern hingegen viel weniger zugetan sind, weil sie sagen: So nicht. So wollen wir das nicht. Nie wieder.

Nachtrag, 8. Mai 2022:

Mittlerweile hat ein offener Brief um die „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer, der genauso argumentiert, wie der hier besprochene Text, eine weitere Öffentlichkeit erreicht. Wie falsch die in jenem Brief genannten Behauptungen sind, hat Heinrich August Winkler sehr pointiert ausgeführt. Was wir daraus lernen? Daß man die Geschichte schon genau kennen sollte, um überhaupt etwas (vielleicht) aus ihr lernen zu können. Andernfalls wird sie nur zum Steinbruch für Versatzstücke, mit denen wir die eigenen Vorurteile und Ideologeme zu bestätigen suchen. Damit kann man dann alles Beliebige begründen, einen Überfall auf die Ukraine (Putin) oder die Forderung, sich der Gewalt zu ergeben (pazifistische Schreiber offener Briefe). Offenbart werden mitunter auch Selbstgerechtigkeit und Hybris…

Putins Freunde rechts und links

Karikatur: Klaus Suttmann

Putin bombt und mordet und bei uns in Deutschland steht ein großer Teil des AfD-Milieus hinter ihm, ebenso wie einige von den ganz Linken. Leider kann man nicht ausschließen, daß es auch in der SPD noch Leute gibt, die Sympathien für das putinistische Rußland und seine imperiale Politik hegen. Irritierend. Deshalb wollen wir mal überlegen, was könnte für ganz Rechte und ganz Linke so attraktiv an Russland, seinem Diktator und seiner Politik sein?

1. Scheinbare Eindeutigkeit. Das Weltbild, das von Putin vertreten wird, ist in dichotomischen Strukturen politischer Antagonismen gegliedert. Grautöne gibt es hier eher nicht. Das erleichtert die Orientierung in einer komplexen Welt ungemein, auch wenn es nicht zu einer Weltsicht führt, die empirischen Maßstäben standhält.

2. Das Selbstverständnis als Opfer einer feindlichen Umgebung. Die Umwelt außerhalb der Eigengruppe wird als feindlich wahrgenommen. Sie ist nicht nur einfach anders, sondern gegen mich gerichtet. Zumeist wird die Umwelt auch als feindliche Verschwörungsaktion wahrgenommen. Das Selbstbewußtsein als Opfer ist wichtig, um die eigenen Handlungen moralisch als Abwehrhandlungen zu legitimieren. Diese Handlungen können dadurch auch dann gerechtfertigt sein, wenn sie brutal und aggressiv sind und vollkommen gegen jede Moral stehen.

3. Das Selbstbewußtsein, eine tiefere Erkenntnis in die Weltenläufte zu haben. Die anderen verstehen es nicht, deswegen sind sie zumindest Unwissende, oder sogar Gegner oder Feinde.

4. Hypertrophe Identifikation mit der Eigengruppe. Die Eigengruppe ist alles, der Einzelne ist nichts (außer dem Führer). Das kann als Ultranationalismus seinen Ausdruck finden wie auch in der Identifikation mit einer besonders „linken“ Gruppe. Alle, die nicht zur Eigengruppe gehören, sind minderwertig, uneinsichtig, gegnerisch oder feindlich oder alles zusammen.

5. Autoritäres Gesellschaftsmodell. Die streng hierarchische Vorstellung von Gesellschaft gibt Orientierung und Halt, vermeidet Verantwortungsübernahme und Eigenverantwortung. Insofern ist sie auch ein Ausdruck von Bequemlichkeit, nicht nur von Sicherheitsbedürfnis. Wichtig ist die Unterwerfungsbereitschaft und die Bereitschaft, dem Führer zu folgen.

6. Ablehnung der Demokratie als Lebens-, Gesellschafts- und Regierungsform. Ablehnung von Mehrheitsentscheidungen. Die Formen demokratischer Auseinandersetzung mit Argumentieren, Überzeugen und Mehrheitsentscheiden werden komplett abgelehnt. Weil man selbst in höherem Wissen sich wähnt, sind alle anderen uneinsichtig. Und Debattieren ist überflüssig, weil sich der Stärkere durchsetzt. Es gilt das Recht des Stärkeren. Das demokratische Prinzip von der Stärke des Rechtes wird als schwächlich wahrgenommen.

7. Ablehnung von einer Gleichzeitigkeit und dem Nebeneinander verschiedener Lebensentwürfe. Da die Eigengruppe einen in der Regel vom Führer sanktionierten Lebensentwurf als identitätsstiftendes Moment teilt, ist die Abgrenzung zu anderen Lebensentwürfen und deren Abwertung ein zentrales Moment.

8. Faszination von autoritären Charakteren, ihnen gegenüber besteht eine starke Unterwerfungsbereitschaft. Vorbilder sind nicht Charaktere, die demokratische Mehrheiten bilden und in Bewegung setzen können, sondern Führer- oder auch Erlöser-Figuren, die vorgeben, ein höheres Wissen haben und ihre Anhänger klar auf eine irgendwie definierte Gruppe von Gegnern oder Feinden ausrichten können. Entsprechender Habitus der Überlegenheit wird als attraktiv empfunden (etwas nüchterneren Zeitgenossen erscheint das oft als lächerlich).

9. Der dichotomischen Weltsicht entspricht das politische Ziel, den eigenen Herrschaftsbereich geographischen klar gegen andere abzugrenzen. Einflußsphären zu schaffen, in die andere nicht hineinreden dürfen. Die Theorie dazu stammt von Carl Schmitt: „Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte“ (1939).

10. Selbstverständnis als Kämpfer. Die Art der Auseinandersetzung ist der Kampf, der ganz dinglich kraftmeierisch verstanden wird, nicht nur als Redeschlacht. In der Bildsprache von Diktatoren ist das auf den ersten Blick sichtbar. Putin als Judo-Kämpfer oder als Tarzan-Cowboy-Django auf dem Pferd in öder, feindlicher Wildnis. Aus der russischen und deutschen Geschichte kennen wir vergleichbare ikonographischen Darstellungen.

11. Eine – wie auch immer – besonders geartete Ideologie beschreibt eine Gegenwartsanalyse und ein Gesellschaftsmodell der Zukunft, in dem die Gegner und Feinde keinen Platz mehr haben. Die Gegenwartsanalyse wird auch gerne mit Verschwörungsmotiven strukturiert.

Wahrscheinlich könnte man die Liste der möglichen Berührungspunkte noch ein wenig verlängern. Aber für unsere Überlegungen sollen diese Punkte, die aus meiner Sicht die wesentlichen darstellen, zumindest einen Ausgangspunkt liefern. In die hier genannten strukturellen Elemente passen unterschiedlichste totalitäre Ideologien, und eben auch die putinistische Vorstellung von Russki Mir, der Russischen Welt.

De facto ist diese Welt jedoch eine, in der die Mehrheit einer Gesellschaft nicht leben möchte, bestenfalls gezwungenermaßen ausharrt, wenn sie nicht unterdrückt, verfolgt, eingesperrt oder ermordet wird.

Doch ist mir bewußt, daß alle diese Überlegungen in der aktuellen Situation, in der die russischen Soldaten wie gewöhnliche Verbrecher die Menschen in der Ukraine niederzumetzeln suchen furchtbar unangemessen sind.

Kollektivschuld? Kollektivschuld!

Wir haben in den letzten Monaten unser reines Pazifisten-Gewissen gepflegt, indem wir an die bedrohte Ukraine keine Waffen lebten. Pazifismus hielt uns davon ab, einem bedrohten Volk die Möglichkeit zu geben, sich wirksam zu verteidigen. Das ist nicht nur ein politisches Versagen, sondern auch eine moralische Schuld, die wir tragen müssen.

Nun nehmen wir Flüchtlinge auf, die vielleicht nie gekommen wären, wenn wir vorausschauend handeln würden. Viele kommen zu uns nach Deutschland, noch viel mehr kommen zu unseren Nachbarn nach Polen. Die polnische Gesellschaft ist in einem noch viel größeren Maße für die Hilfe mobilisiert als unsere, auch das sollten wir sehen. Die Hilfsbereitschaft ist moralisch geboten und selbstverständlich, sie hat auch den untergeordneten Aspekt, unser Gewissen erneut zu beruhigen.

Es kommen vor allem Frauen und Kinder. Die Männer bleiben zumeist im Land, auch viele Frauen, um zu kämpfen. Die Kinder, die nun zu uns kommen, werden hier in die Schule gehen und aufwachsen. Sehr viele von ihnen ohne ihre Väter, Onkel und Großväter. Wenn Sie ein wenig älter sind, Deutsch gelernt haben, werden sie uns fragen: Warum habt ihr uns nicht rechtzeitig geholfen, bevor die Katastrophe begann?

Diese Kinder und ihre Familien werden unter uns leben und uns täglich daran erinnern, daß uns in einem entscheidenden Moment, in dem wir wissen konnten, was kommen würde, aber nicht wissen wollten, moralisch und politisch versagt haben. Ich weiß nicht, wie diese Kinder unter uns leben können werden, im Bewußtsein, daß diese Deutschen, die ihnen halfen, kurz zuvor noch mitverantwortlich wurden, daß dieser Überfall auf ihre Heimat erst möglich wurde.

Nach der Zeit des Nationalsozialismus gab es eine Fülle von Diskussionen, mit denen versucht wurde, irgendwie mit dem Geschehenen umzugehen. Einer dieser Diskursstränge rankte sich um die Frage, ob das deutsche Volk als ganzes in einer Kollektivschuld verstrickt sei, weil es Hitler, die Nationalsozialisten und ihre Verbrechen ermöglicht hätten. Das wurde richtigerweise verneint, aber eine Kollektivverantwortung für alle, die nach dem Nationalsozialismus in Deutschland leben, postuliert. Diese Ablehnung einer Kollektivschuld war im Hinblick auf die Situation eines Lebens unter totalitärer Herrschaft moralisch und rechtlich folgerichtig. Unter der Situation einer Demokratie stellt sich so eine Frage anders.

Wir sind heute alle mitverantwortlich für die Politik der Bundesregierungen, die ich in vergangenen Blog-Beiträgen erwähnte. Wir sind als demokratische Bürger verantwortlich, welche Politik unsere Regierung betreibt. Und wir haben mehrheitlich die Politik der aktiven Verweigerung von Hilfeleistung für die bedroht Ukraine unterstützt. Wir waren nicht unter Druck gesetzt oder ausgeliefert im Deutschland des Jahres 2021. Deswegen haben wir eine Mitverantwortung für das Tun und Unterlassen unserer Regierung(en). Wenn wir also schon im vergangenen Jahr politisch und moralisch versagten, sollten wir es heute zu vermeiden suchen, erneut zu versagen. Nur dann dürfen wir als Sozialdemokraten die Ideen von Solidarität und aus-der-Geschichte-lernen weiter diskutieren, ohne vor Scham und Bigotterie zu erröten.

Dieses Überlegungen hier sind erschreckend akademisch und abstrakt im Angesicht des Leidens und der großen Verbrechen, die wir dem Diktator Putin in der Ukraine zuschreiben müssen. Sie sind ein Ausdruck von Ohnmacht, wo eine sehr viel robustere Hilfe und Solidarität in Europa Not tut.

Schröder, der Problembär

Desinformation und Landesverrat?

Karikatur von Klaus Suttmann

„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“

So lautet der Eid, den jeder Bundeskanzler schwört. Ob GS sich auf Gottes Hilfe damals berief, weiß ich nicht mehr. Hoffentlich nicht.

Wie die meisten von unseren Ostpolitikern leider jetzt erst feststellen, haben sie sich in Putin „geirrt“. Das klingt ein wenig so, als müsse man mit ihnen Mitleid haben. Haben wir aber nicht. In Zeiten der Kanzlerschaft von GS begann eine „Kooperation“ mit Rußland, die es „Präsident“ (recte: Dikator) Putin ermöglichte, seine Aufrüstung als Basis von imperialistischer Politik und von Kriegen, die durch Kriegsverbrechen gekennzeichnet waren, zu verwirklichen. Wenn seine Opfer nicht gleich tot waren, kamen viele von ihnen – nicht erst seit 2015 – in Europa und auch in Deutschland an. Die Tschetschenen und Georgier fielen zahlenmäßig nicht ins Gewicht, erst als Syrer in großer Zahl kamen, wurden sie bemerkt. Aber nicht als Opfer des putinistischen Imperialismus.

Stattdessen bediente GS in seiner – politisch durchaus nachvollziehbaren – Verweigerung für den 1. Irakkrieg starke anti-amerikanische Ressentiments in Deutschland. Er spielte mit dem deutschen Pazifismus, der immer die Abrüstung des Westens und nie die des russischen Imperiums forderte. Er begann als Kanzler schon 2005 das Projekt „Nord Stream 1“, von dem einige hellsichtige Leute damals gleich sagten, es würde die Ukraine schädigen und an Rußland ausliefern. Das nannten sogar russische Beteiligte in der Vorbereitungsphase als Motiv. Doch GS und die ihm folgenden Bundesregierungen verschlossen die Augen und sprachen ihr Glaubensbekenntnis „ein wirtschaftliches Projekt!“, insbesondere auch dann noch, als das nachfolgende „Nord Stream 2“ Vorhaben immer stärker kritisiert wurde. Die von GS begonnene und von der Kanzlerin fortgesetzte Ostpolitik isolierte Deutschland von den Nachbarn, wischte deren Bedenken arrogant beiseite, und machte über ihre Köpfe – und wie wir heute wissen zu ihrem Schaden – hinweg Politik mit dem großen Angstgegner von Letten, Esten, Litauern, Polen, Georgiern und… Ukrainern. Die GS nachfolgende Kanzlerin beschwichtigte mit ihrem guten Draht zu Putin. Wenn man bilanziert, hat sie ihm gegeben war er wollte und nie etwas von ihm erhalten. Die auf kurze Sicht ausgerichtete Politik mehrerer Bundesregierungen kannte keine strategische Weitsicht. Es war ja „ein wirtschaftliches Projekt“. Im Ergebnis war unsere deutsche Politik gegenüber Rußland ein Schandfleck in der deutschen Geschichte nach 1945 (Szczepan Twardoch). Zu fragen ist zudem, ob diese Politik nicht auch Rußlands Vorgehen gegen Georgien und Belarus Vorschub leistete… Man kann wohl sagen, daß die auf Deutschlands Betreiben hin den Ländern Georgien und Ukraine verwehrte Mitgliedschaft in der NATO die beiden Länder und ihre Bewohner dem putinistischen Imperialismus auslieferte.

Wenn man diese von GS begonnene Politik zusammenfaßt, hat sie großen Schaden über Europa, nicht nur die europäische Union, gebracht und dazu entscheidend beigetragen, daß wir jetzt einen brutalen Angriffskrieg Rußlands gegen die Ukraine erleben, über den alle „überrascht“ sind. Die „Überraschung“ gründet in einer aktiven Realitätsverweigerung und dem daraus folgenden Reden in einer Weise, die man nur als jahrelange Desinformation seitens der Bundesregierungen verstehen kann. Wir haben die Bedenken und die Kritik gehört und hatten die Gelegenheit gehabt, sie ernst zu nehmen. Auch, nachdem der Krieg in der Ukraine von Rußlands Söldnern und Soldaten 2014 begonnen worden war. Da wurden die Augen einfach nur noch fester verschlossen, wo wir die Reihen aller Europäer hätten fest schließen müssen. Damit kein Zweifel aufkommt: Die Ukraine gehört zu Europa, leider immer noch nicht zur Europäischen Union.

Zurück zum Amtseid. Die von GS begonnene Ostpolitik der Kooperation, die zu Abhängigkeiten führte und die Politik der Desinformation und des Illusionismus, die Deutschland und Europa in eine Situation großer Gefahr führte, kann man nicht als Erfüllung des Amtseides, sich „dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren…“ ansehen. Deutschland hat einen großen Schaden in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht, dessen Ausmaß sich noch stark vergrößern wird. Deutschland hat sich an der Vorbereitung und auch Durchführung eines Angriffskrieges beteiligt, wenn auch nicht durch offenen Entschluß, so doch durch willige Finanzierung und aktives Wegschieben von sich abzeichnenden Realitäten und den Bildern putinistischer Kriege, sowie aktives Verschließen der Ohren gegen die Bedenken und Warnungen unserer europäischen Nachbarn.

GS stand zu Beginn und in allen folgenden Jahren im Zentrum dieser zu Abhängigkeit Deutschlands und zum Kriege führenden Politik. Eines Krieges, von dem wir heute noch nicht wissen, ob er seitens des imperialen Aggressors nicht noch weiter entgrenzt wird. GS hat seine Verbindungen und seine Reputation zur Absicherung dieser Politik genutzt, badete in Goldrubeln und sonnte sich mit dem Diktator.

Als ein Akt der Rettung unserer Souveränität, und hoffentlich der Ukraine, hat sich der Westen auf Sanktionen verständigt, die von allen Europäern mitgetragen werden müssen, die ihren Lebensstandard senken, Arbeitsplätze gefährden und mannigfachen Schaden auch auf unserer Seite verursachen. Wir weisen Dirigenten und Opernsängerinnen die Tür, blockieren die Konten von Putin-Profiteuren und Putin-Helfern. Sind wir aber so konsequent und mutig, auch diejenigen anzusprechen, die jahrelang Putins Geschäfte betrieben haben und sich an der Desinformationskampagne beteiligten, die so wirksam war, daß sie sogar Regierungspolitik wurde?

Eine brutale Lektion in Außenpolitik

Der lange Abschied der SPD von Willy und der Entspannungspolitik

Auch diese Karikatur ist von Klaus Stuttmann – vielen Dank.

Seit Sommer 2021 hat der russische Präsident Putin seine Armee um die Ukraine herum zusammengezogen und gruppiert, bis das Land von allen Seiten, von Land und von der See eingekreist war. Seit 2014 attackiert Putin die Ukraine, damals hatte er die Krim überfallen und an sich gerissen und seine Söldner in der Ostukraine aktiv werden lassen – die von uns im Westen als Separatisten bezeichnet und mißverstanden wurden, ganz so wie Putin es wünschte. Putin wollte verhindern, daß die Ukraine sich weiter politisch und kulturell dem Westen annähert, zu einer Demokratie entwickelt, in der Herrscher abgewählt werden können und das Ziel verfolgt, Mitglied in EU und NATO zu werden.

In einem ersten Schritt marschierte Putin am 21. Februar 2022 dort ein, wo seine Söldner schon waren, in der Ostukraine, gefolgt von einem konzentrierten Angriff aus allen Richtungen. Das Muster des Ablaufes war seit dem Georgien-Krieg 2008 allen bekannt: Erst Söldner als „Separatisten“ aktivieren, dann die in den von diesen kontrollierten Gebieten wohnenden Menschen zwangsweise mit russischen Pässen versorgen, die Gebiete als „unabhängig“ anerkennen und abschließend „brüderliche Hilfe“, Einmarsch und Überfall des restlichen Staatsterritoriums. Nachdem die Abtrennung „selbständigen Separatistengebiete / Volksrepubliken“ erzwungen war, Rückzug aus dem restlichen Staatsgebiet auf die eroberten Regionen. So war jedenfalls des Ende im Falle Georgiens, das seitdem politisch unter Moskaus Knute steht. Ob es in der Ukraine auch so ausgehen wird, ist noch nicht ganz sicher. Wahrscheinlich aber nicht, dazu ist die Ukraine zu wichtig, sie soll womöglich so pazifiziert werden wie Belarus. Zu guter Letzt: Allen Kriegen des putinistischen Rußland ist gemein, auch der Krieg in Syrien ist hier eingeschlossen, daß keine Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen wird und Dinge ihr gegenüber passieren, die eher als Kriegsverbrechen denn als Kriegshandlungen anzusehen sind.

Dennoch: „Daß Wladimir Putin Ernst macht und die Ukraine angreift, hat viele westliche Politiker überrascht“ (C. v. Marschall im Tagesspiegel, 25. Februar 2022). Offenbar lebt nicht nur Putin in der Blase einer Parallelwelt, sondern auch viele Verantwortliche bei uns in einer Blase von Wunschdenken. Letztere ist nun hoffentlich endlich zerplatzt.

Insbesondere sozialdemokratische Politiker förderten in den vergangenen Jahrzehnten die wirtschaftliche Kooperation erst mit der Sowjetunion und dann mit Rußland. Schon unter Kanzler Adenauer begann die Bundesrepublik eine Zusammenarbeit mit der Sowjetunion im Energiebereich, auf Druck der USA nach der Kuba-Krise abgebrochen. Wiederaufgenommen etwa 1969 mit Erdgasröhrengeschäften, fortgeführt in den 1980er Jahren. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden z.B. Nord Stream 1 (Bau 2005-2011) und dann Nord Stream 2 (Bau 2018-2021) realisiert, letzteres ein Projekt, das nach dem Überfall auf die Ukraine 2014 (Krim-Besetzung und Söldnereinfall im Osten) begonnen wurde und sich erst jetzt zur Investitionsruine entwickelt. Im Zusammenhang vieler Krisen in jenen Jahren widersetzte sich die Bundesregierung den Forderungen der USA, sich an Sanktionen gegen die Sowjetunion zu beteiligen. Handel war immer wichtiger als gemeinsam politische Werte zu präsentieren.

Wandel durch Handel war eine Idee, die mit Willys und Egons Entspannungspolitik verbunden war. Das funktionierte bestenfalls scheinbar, die Sowjetunion wurde ökonomisch etwas stabilisiert, verschwand dann aber als die ökonomischen Bedingungen sich weiter verschlechterten und das Militär- und Besatzungsregime im Osten Europas nicht mehr trugen. Gleichzeitig wurde ein Prozeß begonnen, der über die KSZE bis zum Budapester Memorandum einige Verträge mit der Sowjetunion und dann der Russischen Föderation zustande brachte, mit denen ein friedliches Zusammenleben in Europa gesichert werden sollte. Nach dem Verschwinden der Sowjetunion dachten viele Sozialdemokraten, daß die Konfrontation mit dem großen Nachbarn im Osten ja nun beendet sei, so könne man die Kooperation ausbauen und auf die sicherheitspolitischen Aspekte verzichten, am Militär sparen und eine „Friedensdividende“ verteilen. Das ging vielleicht 20 Jahre gut, vielleicht auch weniger, weil sich Rußland leider nur sehr wenig wandelte, doch dieses wiederum wollten die Sozialdemokraten nicht wahrhaben. Insbesondere blendeten sie aus pazifistischen Motiven ganz schnell die Dialektik aus, die bedeutete, daß Entspannung und Kooperation mit Regimen, die nach anderen Regeln als unseren transatlantisch-demokratischen funktionieren, nur auf Basis einer militärischen Mindeststärke zuverlässig und friedlich sich entwickeln können.

Pazifismus ist wirklich eine für das eigene Wohlbefinden angenehme Sache, stößt aber an Grenzen, wenn einem ein Aggressor begegnet, der sich an keine Grenzen halten will. Das war im Falle der Bedrohung der Jesiden im Sindschar Gebirge (August 2014) augenfällig. Hier halfen keine Friedenslieder mehr, sondern nur noch die Ausstattung der Kurden mit angemessenen Waffen. Die reine pazifistische Lehre hätte die Frauen und Kinder dort ans Messer geliefert.

Im Hinblick auf Rußland stellen wir mit etwas Verwunderung fest, daß die Politik dieses Landes seit Jahrhunderten imperiale Züge aufweist, seit Peter I. die russische Herrschaft ausbaute. Imperialistische Züge hatte die sowjetische Herrschaft durchaus ebenfalls. Daran verwundert nur, daß die deutsche und europäische Linke sich dieser Realität bis heute verweigert. Schönes aktuelles Beispiel: Die tiefrote Zeitung „Junge Welt“ (ehedem Hausblatt der FDJ) titelte nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine: „Putin sichert den Frieden“. Das sehe ich als ein starkes Zeichen, wie sich „Linke“ in eine wirklichkeitsferne Parallelwelt verabschiedet haben, in der Rosa Luxemburgs Maxime „Sagen, was ist“, nicht mehr gilt.

Weite Teile der SPD setzten viel Kraft und Energie darein, sich der zunehmend offen brutalen und imperialen Wirklichkeit Rußlands zu verweigern. Weder erkannten sie in dem Vorgehen Putins im Tschetschenien-Krieg ein Problem, noch in seiner Innenpolitik, die Pluralismus bekämpft und politische Gegner ins Gefängnis, in die Verbannung oder ins Arbeitslager bringt – in guter alter russischer Tradition -, wenn sie nicht ihr Leben verlieren.

Manche in der SPD haben auch ein rosa-romantisches Bild von Rußland, das aus Zeiten der Deutsch-Sowjetischen-Freundschaft herrührt und fast unkorrigierbar erscheint. Noch Mitte Februar 2022 schrieb ein Landrat aus dem östlichen Brandenburg in tiefer Ergebenheit einen Brief an Putin, der in einer Einladung zum gemeinsamen Besuch der Gedenkstätte für die Schlacht an den Seelower Höhen in den letzten Wochen des 2. Weltkriegs gipfelte. Ein Ex-Kanzler – mit Verlaub – entblödete sich sogar und warf der Ukraine „Säbelrasseln“ vor. (Dazu fällt mir nur ein, daß ich es als ein Ex-Politiker strikt zu vermeiden suchen würde, mich als Pudel eines kriegslüsternen Imperialisten zu gerieren. Aber ach, vielleicht hat der Ex-Kanzler auch Recht: Genau genommen ist die Ukraine so schlecht ausgerüstet, daß der Armee wenig mehr als mit ihren Säbeln zu rasseln übrig bleibt — Wenn das nicht so tragisch wäre, könnte man über die absurde Situation nur noch lachen.) Und der Chef des Deutsch-Russischen Forums kommt jetzt erst zu der Einsicht, daß er sich in Rußland „getäuscht“ hätte. Solche Irrtümer kosten vielleicht nicht uns, wohl aber anderen das Leben, wie wir gerade erneut sehen können. Illusionismus sollte in der internationalen Politik nichts zu tun haben, eine faktenbasierte Nüchternheit hilft meistens weiter… Im Zusammenhang mit der überbordenden Rußland-Liebe wurden ja auch die z.B. nach dem Überfall auf die Krim und dem verdeckten Einfall in die Ostukraine verhängten Sanktionen von vielen in der SPD abgelehnt. Liebe macht blind.

Wir stehen den Sanktionen vielleicht nicht ablehnend, aber doch skeptisch gegenüber. Sanktionen wirken vor allem dort effektiv, wo sie das schlechte Gewissen beruhigen, daß man selbst nicht wirklich etwas unternehmen kann. Vor einiger Zeit las ich über eine Untersuchung, die fragte, wo Sanktionen nach 1945 wirklich zu einem Erfolg und ins Ziel führten. Ein Beispiel gab es, ein einziges neben allen anderen, die recht effektlos waren. Das eine Beispiel bezog sich auf Südafrika und die Abschaffung des Apartheid-Regimes. Im aktuellen Falle, dem Konflikt mit Rußland, hörte die militärische Zusammenarbeit Deutschlands mit Rußland erst nach dem Überfall auf die Ukraine 2014 auf, was die weitere Aufrüstung aber nicht hinderte. Falls der Außenhandel mit dem Westen jetzt wegfallen sollte, hat Putin so große Devisenreserven, daß ihm das zwei Jahre keine Probleme bereiten dürfte (etwa 630 Milliarden USD). Der Ausfall des Bankensystems SWIFT wäre mäßig effektiv, da China mit Rußland bereits an einer Alternative arbeitet. Erhöht würde natürlich die Abhängigkeit Rußlands von China, das wird offenbar von Putin in Kauf genommen, wie auch der Ausfall des West-Handels.

Im Hinblick auf unsere Frage, was haben die Sozialdemokraten angesichts der Entwicklungen für ihre Ostpolitik gelernt, können wir nur vorläufig bilanzieren:

  • Der Illusionismus über Rußland ist zerplatzt. Wir sind nun bereit, die lange imperialistische Gewaltgeschichte zu sehen.
  • Das Wuschdenken, durch Kooperationen und Handel seien verläßliche Beziehungen aufzubauen, ist verpufft. Wenn die militärische Komponente, die zu Zeiten von Brandts Ostpolitik sehr stark war, fehlen sollte, liefert man sich aus.
  • Die Zeit, in der wir davon ausgehen konnten, daß wir auf der Basis von Verträgen und Völkerrecht die Beziehungen zwischen sehr unterschiedlichen Staaten friedlich regeln können, ist ein stückweit vorbei.
  • Unsere transatlantisch-westlichen Werte nur mit Argumenten und Wirtschaftsbeziehungen zu verteidigen, reicht offenbar nicht aus. Wir müssen auch zu einem robusteren Vorgehen in der Lage sein (in der Hoffnung, es dadurch vermeiden zu können).

Die Sozialdemokraten versammeln sich gerne unter dem Motto „Aus der Geschichte lernen“. Da sollten wir künftig in der Lage sein, einen nüchternen Blick auf die Gewaltgeschichte des vergangenen Jahrhunderts werfen. Dazu ist es auch notwendig, Hitler und den Nationalsozialismus zu entdämonisieren und in historisch-sachliche Vergleiche mit den Herrschaften von Lenin, Stalin, Mao und eben auch aktuellen Gewaltherrschern einzubeziehen. Wir werden sehen, daß Gewaltpolitik und imperialistische Politik ein begrenztes Arsenal an Werkzeugen und Methoden hat, von denen viele in verschiedener Kombination in historischen Kontexten angewandt wurden – mit unterschiedlichen ideologischen Begründungen verbrämt. Auf der Ebene der ideologischen Verbrämungen gibt es aber auch Gemeinsamkeiten: Eine paranoide Weltsicht, eine Unfähigkeit zum wissenschaftlich-empirischem Blick und eine enthemmte Gewaltbereitschaft im Bewußtsein, von „Feinden“ eingekreist zu sein und ein komplette Fehlen von Werten, die wir in europäisch-atlantischer Tradition für zentral erachten. In internationalen Konflikten, sollte man sich auch der Möglichkeit bewußt werden, daß das Gegenüber ganz anders, unvorstellbar anders als ich selbst denkt und „tickt“.

Auch im Hinblick auf unser Bild von der Sowjetunion ist ein etwas nüchterner Blick angebracht. Die Sowjetunion hat uns Deutsche und Europa unter hohen eigenen Opfern gemeinsam mit den anderen Alliierten vom Nationalsozialismus befreit. Dieser Akt der Befreiung war am 8. Mai 1945 vollbracht. Was danach folgte, war jedoch keine Freiheit in den von der Roten Armee befreiten Gebieten. Diese Dialektik, daß die Sowjetunion erst befreite und dann unterdrückte, müssen wir aushalten und das darf insbesondere nicht dazu führen, daß wir über Unterdrückung und imperiales Gehabe nach dem 8. Mai 1945 hinwegsehen.

Es gibt auch Muster der Reaktion auf die imperialistischen Herausforderungen. Dafür stehen die Politikkonzepte von Chamberlain und Churchill paradigmatisch. Bislang folgte die Sozialdemokratie dem Muster von Chamberlain. Erfolgreicher war aber Churchill.

Damit kommen wir zu dem Thema der Waffenlieferungen Deutschlands in „Krisengebiete“. Im Falle der Jesiden war das moralisch und politisch eindeutig. Im Hinblick auf die Bedrohung der Ukraine im Sommer 2021 lernen wir aus dieser Geschichte, daß wir die Pawlowsche Reaktion der Pazifisten auf jede Frage nach Waffenlieferungen „Nein“ zu rufen, dringend überdenken müssen. Diese pazifistisch motivierte Verweigerung führte nun recht direkt zum Krieg. Wieder so eine Dialektik, in der wir uns bewegen müssen: Waffenlieferungen zum richtigen Zeitpunkt wirken friedenserhaltend, Waffenlieferungen zu spät wirken eskalierend. Konkret: Lieferungen von Anti-Flugzeugraken und Anti-Panzerraketen im Herbst hätten die Chance für den Frieden deutlich erhöht, Lieferungen der gleichen Waffen nach Beginn des Krieges können leicht eskalierend wirken. Wenn die Ukraine im Oktober eine ausreichende Menge an „Stinger“ und „Milan“ (wirksam gegen Fluggeräte und gegen Panzer) gehabt hätte, wären die Erfolgschancen der diplomatischen Bemühungen größer gewesen. Wir haben aber zuerst die Ukraine der russischen Aggression ausgeliefert und hoffen nun, ihr noch helfen zu können. Die Lehre daraus ist ein Paradox: Friedenspolitik besteht darin, rechtzeitig richtig zu handeln und sich wehrhaft zu machen. Es sollte uns bewußt sein: Die Ukrainer kämpfen für ihre und unsere Freiheit.

Die Maxime si vis pacem, para bellum wird gemeinhin sinngemäß übersetzt mit: „Wenn du Frieden möchtest, dann bereite einen Krieg, danach hast Du Frieden“. Das ist die Methode, nach der Putin handelt. Ich würde den Satz in einer pazifistischen Perspektive lieber so übersetzen: „Wenn Du Frieden willst, bereite den Krieg vor, damit Du ihn nicht führen mußt“. (Meine Lateinlehrerin wäre wahrscheinlich nicht einverstanden mit dieser Übersetzung…)

Das Dilemma der SPD-Sieger

Oder: Was erwarten die Wähler, was erwartet die Partei?

Nun hat die SPD vor einigen Tagen gezeigt, daß sie doch noch Wahlen gewinnen kann. Im Bund, in Berlin und in Mecklenburg-Vorpommern. In letzterem Fall sogar mit einer sehr deutlichen Mehrheit, die an Wahlsiege zum Ende des letzten Jahrhunderts erinnert. Von diesem Fall, der an Eindeutigkeit nichts missen läßt, soll im Folgenden nicht die Rede sein. Sondern von Berlin und dem Bundestagsergebnis.

Im Bund wie in Berlin hat die SPD Kandidaten – Olaf Scholz und Franziska Giffey – aufgestellt, die von der Funktionärsmehrheit der Bundes- und Landesparteiorganisation nur mit Murren und Unzufriedenheit mitgetragen wurden. Beide sind nicht sonderlich „links“. Daß das Murren öffentlich kaum vernehmlich war, war der Tatsache geschuldet, daß alle von rechts bis ganz links in der SPD wußten, wer den den Erfolg effektiv gefährden wollte, mußte nur von links herumkritteln. Soweit ist alles bekannt.

Die beiden Kandidaten haben Wähler überzeugen können, die offensichtlich in vorangegangenen Wahlen andere Parteien wählten, die Stimmenzunahme besonders bei der Bundestagswahl war beachtenswert und legt die Vermutung nahe, daß manch Wähler der sozialdemokratisierten Merkel-CDU nun mal wieder das Original wählte. Im Ergebnis gewannen die beiden Kandidaten mit einem politischen Programm, das die Wähler überzeugte, die Funktionäre der eigenen Partei aber nicht mittragen, sie wollen etwas anderes, mehr „links“. In Berlin ist das sofort sichtbar geworden, als einige Kreisverbände flugs, bevor die Stimmzettel eingepackt worden waren, eine Koalition mit den ganz LINKEN forderten. Zuvor hatte Kandidatin Giffey das Lieblingsprojekt der LINKEN, die Enteignung von größeren Wohnungsbesitzern, kategorisch abgelehnt. Nun gab es hierzu auch einen Volksentscheid, der eine deutliche Mehrheit für die Enteignung erbrachte. Ein Beispiel für die Differenzen, weitere tun sich auf bei der inneren Sicherheit u.a. Auf der Bundesebene ist die Konfliktlage noch nicht so klar erkennbar, doch frohlockt manch einer, daß in der SPD-Fraktion nun sehr viele junge seien, alles JUSOS, von denen man ausgeht, daß sie „links“ sind und diesen Flügel in der Fraktion nun verstärken werden. Im Bund ist die Sache dann doch nicht so einfach, da die LINKE dort derart geschrumpft wurde, daß sie für die Bildung von Regierungsmehrheiten untauglich ist.

Im Hinblick auf unser Thema – SPD erneuern – stellt sich also folgende Lage dar: Die SPD gewinnt Zuspruch und Wahlen, wenn sie sich an den politischen Wünschen einer irgendwie bürgerlichen Mitte orientiert (Leser unseres Blogs erinnern sich: Das Dänische Modell). Um das zu erreichen, stellte die linke Mehrheit in Bund und Berlin Kandidaten auf, die politisch weiter „rechts“ stehen als sie selbst. Mit den eher „rechten“ Positionen erfolgreich gewählt, sollen sie nun ein „linkes“ Programm realisieren, das die Wähler nicht gewählt haben. Wie die Gewählten aus diesem Dilemma herauskommen, wissen wir heute noch nicht. Aber eine Gefahr droht in allen Fällen: Daß die Wähler sich getäuscht fühlen und sich ihnen die SPD nicht als so seriös und zuverlässig darstellt, wie sie es erwartet haben und erwarten.

Ist die SPD noch regierungsfähig?

Die LINKE ist nicht regierungsfähig, da sind sich die meisten Kommentatoren und Wähler einig. Das liegt vor allem an deren außenpolitischen Positionen. Keine NATO, gegen amerikanischen Imperialismus, für russischen Imperialismus, überhaupt gegen Waffen.

Der SPD wird die Regierungsfähigkeit im Allgemeinen nicht abgesprochen. Doch langsam bekomme ich Zweifel. Der Fraktionsvorsitzende im Bundestag möchte die „atomare Teilhabe“ aufkündigen, die Fraktion kann sich seit Jahren nicht damit anfreunden, daß es mehr Bösewichte auf der Welt gibt als Gutmenschen und verweigert sich einer Modernisierung der Bundeswehr, wie an ihrer Ablehnung von bewaffneten Drohen unschwer zu erkennen ist.

Nachdem der Vorsitzende der Grünen an der „Kontaktlinie“ in der Ukraine war, jener Linie, die die russischen Invasoren und ihre Freunde, die sog. Aufständischen von den Resten der Ukrainie trennt, forderte er, die Ukraine mit Waffen zur Selbstverteidigung zu unterstützen. Der Mann hatte offenbar eine Konfrontation mit der Wirklichkeit, die bei ihm Spuren hinterließ und ihm deutlich machte, daß es Situationen gibt, in denen muß man sich für etwas einsetzen, was man generell aus moralischen Gründen ablehnt. Aber die Einsicht, Schwächeren zu helfen, war stärker als der pazifistische Impuls. Die Reaktionen aus dem linken Lager folgten sofort, so schnell reagierte kein Linker in den letzten Jahren auf die Übergriffe Putins.

Im Tagesspiegel vom 13. Juni 2021 argumentierte Richard Herzinger für und Gabriela Heinrich gegen eine robuste Unterstützung der überfallenen Ukrainer. Gabriela Heinrich ist Bundestagsabgeordnete der SPD und stellvertretende Fraktionsvorsitzende für Außen-, Verteidigungs-, Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik und mit ihrer Position wollen wir uns jetzt einmal beschäftigen.

Heinrich schreibt über „kriegerische Auseinandersetzungen in der Ostukraine“ oder einen „Konflikt in der Ostukraine“. Das suggeriert Äquidistanz und Symmetrie der Konfliktpartner. Dem ist nicht so, ein sehr viel stärkerer hat einen sehr viel schwächeren überfallen. Sie behauptet, daß die Ukraine „Europas Solidarität“ brauche und sie sich dafür einsetzen wolle. Doch interessiert offenbar nicht, was sich die Ukrainer von Europa als solidarisches Handeln erhoffen, sondern in bester paternalistischer Haltung dekretiert Heinrich: „Aber Waffenexporte und Militärausrüstung sind definitiv nicht die Solidarität, die zu einem Ende des Konflikts oder des Leids der Bevölkerung in der Ukraine beitragen.“ Was aber dann? Kerzendemonstrationen und Friedenslieder? Was hat den Frauen und Kindern im Sindshar-Gebirge damals das Leben gerettet? Sicher nicht eine „Solidarität“ à la Heinrich.

Die eigene Moral und ein unbelastetes Gewissen sind wichtiger als Hilfe für andere: „Die Verschärfung der Rüstungsexportrichtlinien, die Waffenexporte in Krisengebiete untersagt, ist eine friedenspolitische Errungenschaft…“ Das klingt nun sehr selbstbezogen. Wenn es etwas gibt, was die Friedensbewegung seit 1979 (NATO-Doppelbeschluß) schmerzlich lernen mußte: Erst das Zeigen der Instrumente hatte zur Folge, daß eine Verhandlungsbereitschaft entstand und im Ergebnis ein Abrüstungsfortschritt erreicht wurde. Das war dialektische Realpolitik, auf die Linke offenbar nicht kommen wollen und von der ich damals auch nicht überzeugt war, daß sie funktionieren könnte. In der Geschichte finden wir immer wieder Beispiele dafür, daß wer sich in einer Position der Wehrlosigkeit befindet, leicht Gefahr läuft, daß über ihn bestimmt wird. Wir sind in Zentraleuropa in der Lage, diese Einsicht zu ignorieren, weil die EU einen stabilen Rahmen für Interessenausgleich und Kooperation bietet. Hier läßt sich leicht ein reines Gewissen in moralische hohen Tönen besingen. Doch an den Rändern Europas sieht es anders aus, wie schon die Kriege im zerfallenden Jugoslawien zeigten. Wie will man ein Srebrenica anders verhindern, als mit Gerätschaften und Waffen, von denen der Aggressor überzeugt werden kann, daß man sie auch einzusetzen bereit ist? Das mag dem einen oder anderen nicht gefallen, ist aber leider nicht mit Wunschdenken zu ändern.

Undialektisches Wunschdenken leitet auch die Aussage, „eine diplomatische Lösung“ könne sich im Rahmen des Normandie-Formates erreichen lassen. Dem liegt offenbar eine Einschätzung zugrunde, die russische Politik mit Marx- und Engelszungen beeinflußen zu können. Diese Fehleinschätzung ist blind für die Rolle, die Rußland unter Putin seit Jahren spielt und mit welchen Dingen man die russische Führung motivieren könnte, eine kooperative Haltung zu entwickeln. Ich fürchte, daß dies erst dann passiert, wenn die russische Führung sieht, daß sie in einem Konflikt mehr verlieren wird als sie gewinnen kann. An dieser Idee setzen Sanktionen an, die von der westlichen Seite als zentrales Mittel angesehen werden, von der östlichen aber nur, wenn sie tatsächlich weh tun. Wenn wir z.B. aufhören würden, russisches Gas und russisches Öl zu kaufen. Dann könnte Putin seine Kriege in Syrien und der Ukraine nicht mehr so einfach finanzieren.

Wenn dann noch die Behauptung aufgestellt wird: „Wer Waffen an eine Seite liefert, würde nicht mehr als ehrlicher Makler wahrgenommen werden“, dann ist klar, daß hier eben keine Solidarität geübt wird, sondern man sich auf die Rolle des Zuschauers zurückzieht, der sich in der Illusion sonnt, in einem Konflikt zu vermitteln. Entweder ist man solidarisch, in einer Weise, wie es vom Anderen gewünscht und erhofft wird oder man enttäuscht die Erwartung. Zudem ist eine Haltung der Äquidistanz in dem Russland-Ukraine-Krieg alles andere als eine solidarische Haltung mit dem Angegriffenen und qualifiziert alle Solidaritätsadressen als Lügen. Wer dann weiter behauptet, die „aktuellen Spannungen an der Grenze zur Ostukraine“ müßten mit „Deeskalation“ abgebaut werden, kneift wieder davor, Täter und Opfer zu benennen. Wegen des mit regulären und irregulären Truppen vorgetragenen Angriffs gerät die Behauptung, daß man „die Krise mit politischen und diplomatischen Mitteln lösen will“, leicht zur Verhöhnung des Opfers.

Mit der Zielsetzung, die „territoriale Integrität und Unversehrtheit der Ukraine wiederherstellen“ zu wollen, und dem Hinweis, daß der Weg dahin „steinig und beschwerlich“ sei, wird den Überfallenen scheinheilig als Ziel genannt, was unstrittig aber unerreichbar ist mit dem als Unterstützung angebotenen Nichts.

Typisch deutsch ist wieder, über die Köpfe der Betroffenen in imperialer Manier im „Dialog mit Rußland über den Konflikt in der Ostukraine“ sein zu wollen (wo bleibt die Krim? Schon den russischen „Freunden“ überlassen?), was wieder kein Akt der Solidarität ist. Im Brustton der Empörung wird noch formuliert: „Unsere Erwartung an Rußland ist klar: Moskau muß durch seinen Einfluß auf die Separatisten dazu beitragen, den im ‚Minsker Abkommen‘ vereinbarten Waffenstillstand einzuhalten“, wobei wieder die Realität kräftig vernebelt wird.

Immerhin wollen wir „mit unserem ökonomischen Gewischt die Ukraine weiter unterstützen“, was billig ist, solange wir Öl und Gas in Rußland kaufen, worauf Putin dann seine Kriege finanzieren kann. In einem Moment überraschender Hellsichtigkeit wird dann formuliert: „Der Schlüssel zu Sicherheit und Stabilität in der Ukraine liegt aber nach wie vor in einer Änderung der russischen Politik.“ Nur, was folgt daraus für die stellvertretende Fraktionsvorsitzende und Sprecherin für die Außen-, Verteidigungs- (!), Entwicklungs- und Menschenrechtspolitik? Dialog und Vertrauen fordert sie, „Brandbeschleuniger jeglicher Art helfen … nicht“. Aus hier wieder Flucht aus der Realität, in der eben das russische Gegenüber auf Kampf und Waffen setzt und immer wieder bewies, daß wir ihm nur begrenzt Vertrauen entgegen bringen können. Wir haben es jetzt nicht mehr mit ideologischen und verkalkten Sowjetführern zu tun (die wenigstens vertragstreu waren), wie weiland in den 1980er Jahren vor Gorbatschow, sondern mit einem, der imperiale Größe anstrebt und sich um internationale Abmachungen nur dann schert, wenn ihm harte Grenzen aufgezeigt werden. Eine Politik zu entwickeln, die in dialektischer Weise mit Augenmaß und Härte solche Grenzen zieht und zur Kooperation auffordert, das wäre in meiner Sicht sozialdemokratische, solidarische Außenpolitik.

So könnte sozialdemokratische Außenpolitik dazu beitragen, daß die SPD an politischem Gewicht gewinnt und der eindrucksvolle Stamm ihrer Tradition nicht weiter vertrocknet und abstirbt. (Dank an Klaus Stuttmann für die Karikatur)

Sieche Partei Deutschlands

Nachdem sich nun Vernebelung der Politik mit Corona zu lichten beginnt, kommt allmählich die Bundestagswahl in den Blick. Der Tagesspiegel überschrieb seinen Leitartikel am 10. Mai 2021 mit obiger Zeile, ein Leidartikel, der die Malaise der Sozialdemokraten teilweise beschreibt:

Das ist das Kalkül der Parteiführung, die so ganz anders tickt als der Superpragmatiker: Er ist nicht wie wir, er will nicht das, was wir wollen, wir wollen ihn nicht – aber die Deutschen wollen uns nicht so, wie wir sein wollen, und deshalb haben wir diesen Kandidaten, den sie in ihrer Mehrheit wollen.

In meiner Umgebung, die sicher nicht empirisch repräsentativ ist, würden sie es toll finden, wenn es einen Kandidaten gäbe, der „Funken schlägt“, der also mit zündenden Ideen und überzeugendem Auftreten die Wähler anzusprechen vermag. Fehlanzeige, und das liegt auch an dem Politik-Modus, den wir uns seit rund 20 Jahren angewöhnt haben. Ein stark an Empirie und Demoskopie ausgerichteter Politikstil, in dem datengestützt technokratisch argumentiert wird. Das muß man mögen. Aber an den meisten Wählern geht es dann doch irgendwie vorbei. Der Blogger wird nostalgisch und erinnert sich eines Erhard Eppler, der politisches Handeln an einen klaren Werte-Horizont zu binden vermochte. Der auch wußte, daß das Schwierigste die Vertrauenswürdigkeit und die Glaubwürdigkeit waren. Das sprach nicht nur den Verstand an, ohne demagogisch zu werden. Eppler verachtete den technokratischen Sprachstil, bei dem sich die Sätze wie „Kavalleriepferde beim Hornsignal“ ausrichteten. Es gibt also eine starke Verbindung zwischen der Ausrichtung auf empirische und statistische Argumente und der technokratischen Weise, Politik zu machen sowie dem dazu passenden Politikertypus. Wahrscheinlich würden ein Franz-Joseph Strauß oder ein Herbert Wehner heute nicht mehr verstanden werden in ihrer Rauflust und brillanten Rhetorik. Aber wenn die Eigenschaften, die jene Politiker prägten, ganz und gar verlustig gegangen sind, verkommt Politik in administrativer Abstraktion und ihm Regulierungswahn. Schön zu sehen im Feld der Bildungspolitik.

Die SPD liebt ja Parteivorsitzende so sehr, daß sie gar nicht genug von ihnen bekommen kann. Und die aktuellen Parteivorsitzenden haben neulich in DIE ZEIT erklärt, wie sie zum Wahlsieg kommen wollen. Das wiederholten sie am 9. Mai 2021 im Tagesspiegel und beide Male wurde deutlich: Die SPD hat das richtige Programm, die SPD hat die richtige Truppe und jetzt ist das Wahlvolk aufgefordert, dies endlich zu erkennen. Walter-Borjans: „Wenn es ernst wird, werden die Regierungserfahrung und Durchsetzungsfähigkeit von Olaf Scholz die Menschen überzeugen…“

Warum überzeugt aber die SPD mit ihrer Politik nicht mehr als 14 bis 16% der Wähler? Vielleicht gibt das Erlebnis von Dirk Neubauer, mit überwältigender Mehrheit gewählter Bürgermeister von Augustusburg in Sachsen einen Hinweis. Er trat in die SPD ein, entwickelte für die Landespolitik Konzepte, die die politische Verantwortung wieder stärker auf die kommunale Ebene verlagern sollten und stellte fest, daß dies alles keine Rolle spielte in der Formulierung der Landespolitik. Die steuert lieber als zentrale Planung und Lenkung über Förderprogramme, die letztlich den Handlungsspielraum für die Kommunen auf ein rudimentäres Maß beschneiden. Mit dieser Methode ist keine Begeisterung für Mitgestaltung auf kommunaler Ebene zu wecken. Neubauer trat neulich aus.

Die SPD Vorsitzenden erwecken einen irritierenden Eindruck: Wir sind toll, wir haben die richtigen Ideen, wir sind die politische Elite und wir werden uns durchsetzen. Die anderen habe es nur nicht gemerkt, aber wir setzen uns in jeder denkbaren Konstellation durch. Das klingt ein wenig nach dem unsäglichen linken Politikmodell, nach dem eine „Vorhut“ oder „Spitze“ den Rest majorisiert und auf Kurs bringt. Es klingt weniger nach der Mühe, sich vorn hinzustellen und darum zu kämpfen, die anderen zu überzeugen. Sie anzusprechen und mitzunehmen. Ich fürchte, aus den Äußerungen könnte ein Politikverständnis sprechen, nach dem eine linke Elite ihre ideologischen Vorstellungen wenn nicht mit Kompromissen und Mehrheiten durchsetzen möchte, sondern lieber in Reinform pflegen. Wohin das führt, kann man im Südwesten Berlins beobachten, wo eine kleine Truppe „linker“ die SPD majorisiert und sich nicht der Wählerschaft öffnet. Hier gilt: Die linke SPD ist die Looser-SPD.

Was darüber hinaus noch irritiert: Die Demoskopen haben durchaus festgestellt, daß es bei einer Mehrheit der Wähler eine Wechselstimmung gibt – nur für die Anhänger der CDU gilt das nicht in großem Maße. Von dieser Wechselstimmung profitiert die SPD überhaupt nicht. Sie verharrt unten in der linken Ecke. Es interessiert einfach keinen mehr, was die SPD für eine Politik möchte. Ein weiterer Erfolg, der den Weg in die Bedeutungslosigkeit markiert.

SPD in Berlin: So gerät linke Bildungspolitik zum Desaster

Zuerst schien alles ganz professionell zu laufen: Die Bildungssenatorin holt sich fachlichen Rat und bewirkt dann eine Entscheidung des Senats für eine schnelle Öffnung der Schulen in Berlin. Am Freitag, zwei Tage nach der Senatsentscheidung, nimmt sie das ganze zurück, die Schulen in Berlin werden wegen der Corona-Eindämmungsmaßnahmen nicht schneller geöffnet als in anderen Ländern Deutschlands.

Natürlich ist es gut und lobenswert, wenn eine politische Führung aufgrund neuer Erkenntnisse und Einsichten in der Lage ist, ihre Entscheidungen zum Besseren zu revidieren. So weit, so gut. Doch gibt es in den ganzen Entwicklungen eventuell Aspekte, die zeigen, daß eine „linke“ SPD-Politik zu gravierenden politischen Fehlern führte? Möglicherweise.

  1. Die Regierung ist für alle verantwortlich und nicht nur für ihre Wähler und Klientel. Das bedingt, daß sie auf gesellschaftliche Mehrheiten achten muß, will sie nicht Unterstützung verlieren. Und in einer Situation, in der die Mehrheit aufgefordert wird, nur noch Kontakte mit einer nicht der eigenen Familie oder dem eigenen Haushalt angehörigen Person zu haben, dann die Kinder und Jugendlichen – rund ein Viertel aller Schüler in Berlin! – zu zwingen, sich in größeren Gruppen an einem Ort zu versammeln, ist selbst sehr gutwilligen Bürgerinnen und Bürgern nicht nachvollziehbar zu machen.
  2. Die Bildungssenatorin wichtete in ihrer Entscheidung die sozialen Folgen des Lockdows – die Erfahrungen des Frühjahrs – wie häusliche Gewalt, Lernprobleme und Benachteiligung besonders der sozial benachteiligten Schüler höher als die Gefahr einer weiteren Verbreitung der Infektion der SARS-Cov2-Varianten. Damit folgt sie einer Linie „linker“ Bildungspolitik, die schon seit langem nicht mehr das Ganze und die Mehrheit in den Blick nimmt, sondern die Minderheiten in den Schulen, die in der einen oder anderen Weise benachteiligt werden (Ausfluß auch der identitätspolitischen Ansätze). Ein Begriff von „Bildung“ oder „Allgemeinbildung“ ist nicht vorhanden und kann somit auch nicht dem Handeln zugrunde gelegt werden.
  3. Die Bildungspolitik in Berlin steht unter der Erwartung, klare Regelungen für alle zu formulieren und ihnen somit Verantwortung abzunehmen und unter der selbst gestellten Anforderung, alle Probleme bis auf die lokale Ebene im Detail regeln zu wollen. Dabei tendiert sie dazu, die Verantwortlichen in den Schulen selbst zu entmündigen. Das Steuerungsmodell nenne ich „Zentrale Planung und Lenkung“. Es hat empirisch bewiesen, daß es nichts taugt (Untergang der DDR). Warum nicht ein Steuerungsmodell wählen, das auf ein hohes Maß an Selbstverantwortung auf der lokalen Ebene setzt und bestenfalls Rahmenindikatoren vorgibt? Die Eindämmungsverordnungen setzen die Grenzen, die Schulen sollten aus einem Katalog von Maßnahmen die für ihre Situation passende Vorgehensweise entwickeln können dürfen.
  4. Damit das unter 3. geforderte auch funktioniert, ist ein funktionierendes System von Lernwerkzeugen notwendig. Dazu gehören in diesem Falle insbesondere funktionierende Methoden, die EDV nutzen. Daß die Politik in Berlin nicht alles daransetzte, die Lernplattform „Lernraum Berlin“ funktionsfähig zu machen, ist ein kardinaler Fehler. Schulen brauchen Wochen, bis Lehrer und Schüler damit reibungslos den digitalen Unterricht absolvieren können. Und wenn dann die politische Steuerung versagt, weil sie erstens soziale Aspekte priorisiert und dann keine klaren Entscheidungen für die elektronischen Systeme, die für alle funktionieren müssen, fällt, dann ist das schlicht Versagen.
  5. Die Bildungssenatorin hat sich mit allen relevanten Institutionen und Funktionären und Fachleuten im Rahmen des „Hygienebeirats“ beraten und abgestimmt. Damit hat sie sich technokratisch abgesichert und dabei das Gespür für die politische Entwicklung und für das, was die gesellschaftliche Mehrheit zu akzeptieren bereit ist, verloren.

Als typisch „linke Dispositionen“, die dazu führen können, daß im Ergebnis krasse politische Mißerfolge stehen, möchte ich aufzählen: Die Ausrichtung auf Teilgruppen, kein Blick für die Mehrheit und das Ganze (Gesellschaft im Lockdown); Die vorrangige Gewichtung von sozialen Aspekten unter Hintanstellung eines Konzeptes für das Ganze (Bildung und Allgemeinbildung); Eine technokratische Argumentation, ohne auf die Werte hinzuweisen und diese zu diskutieren, die Grundlage demokratischen Handelns sind; Der irre Glaube, mit zentralen und detaillierten Vorgaben bis ins Detail lokal regeln zu können (führt auch zu vermehrtem Unmut wegen ständiger Änderungen in den Detailvorschriften); Das Individuum nicht auf seine Selbstverantwortung anzusprechen, sondern zu suggerieren, ein vormundschaftlicher Staat könne für umfassende Sicherheit sorgen; Ein technokratisches Vorgehen, das durch Empirie begründet wird und doch relevante politische Entwicklungen nicht schnell wahrzunehmen in der Lage ist; Eine drastische Vernachlässigung der Kategorie ‚Vertrauen‘ in der Politik und im politischen Handeln, stattdessen administrativ korrektes Vorgehen als einziges Kriterium.

Nun, ich bin mir nicht sicher, ob rechte Sozialdemokraten die angeführten Fehler vermeiden würden, doch würde ich das von einer weniger ideolgoie-geleiteten und mehr werte-geleiteten Politik erwarten.

Das Rezept zum Mißerfolg

Karikatur von Klaus Stuttmann (Danke!)

Von ***, einem Whistle-Blower eines konservativen politischen Think-Tanks wurde SPD-erneuern.com eine Darstellung zugetragen, wie die politischen Konkurrenten über die SPD denken. Sie haben einen Kriterienkatalog aufgestellt, anhand dessen sie abschätzen wollen, ob der Erneuerungsprozeß der SPD sich zu einem Erfolg entwickelt – oder nicht. Im folgenden referiert SPD-erneuern.com die zentralen Thesen des umfangreicheren Papiers: Welches sind die Elemente, die die Sozialdemokraten auf ihrem Weg in den Mißerfolg begleiten, welche Ziele und Vorstellungen treiben sie von ihren potentiellen Wählern weg?

Gegen Rechts!

In der antifaschistischen Volksfront-Tradition erfolgt eine Binnen-Mobilisierung unter dieser Parole. Dabei wird geflissentlich übersehen, daß Teile der Anhängerschaft „rechter“ Parteien ehemalige SPD-Wähler sind und teilweise dem soziologischen Muster eines SPD-Stammwählers entsprechen. Die plakativen und populistischen Parolen „gegen Rechts“ schweißen nur den linken Rand zusammen und stoßen oft jene ab, die sich wohl gegen Extremismus wenden, aber die politischen Probleme mit kühlem Kopf lösen wollen.

Der Kader ist alles.

Der linke Kader hält zusammen und schiebt sich in die Funktionärs-Posten und -Pöstchen und blockt alle Linienabweichler ab. Dabei wird als unwesentlich angesehen, daß es dem demokratischen Charakter von Parteien entspricht, wenn sie ein breites Meinungsspektrum abbilden und damit einen erheblichen Teil der Wählerschaft widerspiegeln. Innerparteiliche Erfolg der „Linken“ sind das einzige Ziel, die Wählerschaft wird nicht weiter in den Blick genommen, da man annimmt, daß die entweder so denken, wie die „Linken“ auch oder eben zu den Gegnern gehören. Zudem erwecken Linke den Eindruck, Wahlergebnisse würden im Himmel beschlossen und man selbst sei eigentlich nicht in der Lage, sie zu beeinflussen. Deswegen wird die Volksfront-Strategie als Weg zum Erfolg verklärt, nach der man nur genügend „fortschrittliche“/“linke“ Parteien und Gruppierungen zusammenaddieren müsse, um eine Mehrheit zu erhalten.

Bloß keine Neuen!

Wenn sich Menschen als Quereinsteiger für Mitmachen und Mandate interessieren, werden diese mit der Empörung begrüßt, die sich aus der Erfolglosigkeit langjähriger Funktionäre speist. Ihnen wird vorgeworfen, daß sie nur eben mal hier auftauchen würde, und daß sie die letzten 20 Jahre keine Plakate geklebt hätten. Damit werden alle Ansätze von Parteistrategen aus dem Willy-Brandt-Haus, mit Quereinsteigern die SPD näher an die Wirklichkeit zu bringen, zunichte gemacht.

Solidarität mit Hausbesetzern/alternativen Lebensentwürfen u.ä.: Relativierung des Rechtsstaates

Die z.B. in Berlin von Teilen der SPD vehement vertretene Forderung, auf die Räumung besetzter Häuser und die Strafverfolgung in diesen Objekten zu verzichten, zeigt ein gerütteltes Maß an Ablehnung des Rechtstaates, der für die Rechtssicherheit und das Sicherheitsgefühl der großen Mehrheit der Bürger unabdingbar ist. Willkür zugunsten der eigenen Klientel ist ein Garant für das Abwenden weiter Gruppen von Wählern weg von der SPD. Ist aber auch ein Zeichen für die angewandte Volksfront-Strategie.

Kritik an Islam und Islamismus ist Rassismus!

Religionskritik gehörte einstmals zum Kern der intellektuellen Bemühungen der Aufklärung, mit dem Ziel, den Menschen aus seiner Unmündigkeit zu befreien. Das richtete sich im Europa der frühen Neuzeit vor allem gegen die christlichen Kirchen. Es ist folglich irritierend, wenn heute gerade von „Linken“ der „Islam“ von Religionskritik ausgenommen wird und jede kritische Äußerung als „Islamfeindlichkeit“ denunziert wird.

Wenn die Ablehnung des Islamismus noch konsensfähig ist, wird aber schon eine kritische Sicht auf religiöse, kulturelle und soziale Traditionen, die sich unter den Muslimen in Europa zeigen, generell als Rassismus bezeichnet. Dabei wird ignoriert, daß die vielfältigen islamischen Traditionen auch Vorstellungen und Einstellungen mit sich bringen (können), die schwer vereinbar mit den Werten sind, nach denen wir hier in Europa leben wollen. Und dazu zählen nicht nur erschreckend weit verbreitete antisemitische Einstellungen. Insbesondere auch der politische Islam, wie er sich im Umfeld der Muslim-Bruderschaft in vielen Ländern entwickelt hat, ist auch für islamische Kulturen ein Rückfall. Vergleiche man nur einmal das Ägypten der 1950er Jahre mit heute. Wenn wir heute vor allem mit den konservativen, häufig vom Ausland stark beeinflußten Islam-Verbänden kooperieren und die europäischen Muslime eines liberalen Euro-Islam ohne Unterstützung im Regen stehen lassen, fördert das nicht die Integration, sondern die Ab- und Ausgrenzung. Insofern ist eine Abwehr von auf den Islam gerichteter Religionskritik ein Element, das die Entfremdung zwischen linker SPD und der potentiellen Wählerschaft fördert. Es ist eben das Vertrackte an der Wirklichkeit, daß sie nicht verschwindet, wenn man die Augen vor ihr schließt.

Umverteilung aus Neid.

Konzepte wie ein bedingungsloses Grundeinkommen oder die Beschränkung der Einkommensspanne nach dem 1 – 12 – Modell finden bei vielen richtigen „Linken“ große Zustimmung und sind ein Garant dafür, daß sich alle abwenden, die eine Abhängigkeit vom Staat und ein Verzicht auf Leistungsanreize als wichtig ansehen. Dabei wird erfreulicherweise aus dem Blick gedrängt, daß eine Vermögenssteuer, eine Anschärfung der Steuerprogression und eine Erbschaftssteuerreform durchaus Elemente einer realistischen Politik für mehr soziale Gerechtigkeit sein könnten. Eine sozialdemokratische Politik des sozialen Aufstiegs und sozialen Ausgleichs wird ersetzt durch eine allgemeine Versorgungspolitik für alle.

Außenpolitik: Blütenträume statt Verantwortung

In der Außen- und Sicherheitspolitik wird demonstriert, daß die SPD die aktuellen Herausforderungen bestenfalls partiell zu sehen bereit ist. Da wird von Atomwaffenfreien Zonen schwadroniert und die Sicherheitskonzeption der letzten Jahrzehnte komplett ignoriert. Auf die Sicherheitsbedrohungen der EU durch Nachbarn im Osten wird mit Vogel-Strauß-Politik reagiert. Stattdessen findet man in der russischen Politik angeblich zuverlässige Partner und übersieht geflissentlich deren aggressiven Imperialismus. Im Alleingang gegen die Interessen der EU-Partner werden Vorhaben wie eine weite Öffnung der Grenzen für Einwanderer postuliert oder das North-Stream-II Projekt vorangebracht. Als Kompensation verweigert man jedes weitere Engagement in der Verbesserung der militärischen Zusammenarbeit, die leider sehr notwendig ist. So verliert man Vertrauen in die außenpolitische Kompetenz der Partei.

Verliebt in Mißerfolg und Rechtgläubigkeit.

Es ist wichtiger, „links“ zu sein als auf Zustimmung bei breiten Wählergruppen zu stoßen. Je weniger gesellschaftliche Gruppen in der lokalen und regionalen SPD repräsentiert sind, desto leichter ist es, eine „linke“ Hegemonie in der SPD zu behaupten. Auf Berliner Verhältnisse bezogen: In Dahlem ist es gut und leicht, „links“ zu sein.

Ein paar Rechte schieben wir nach vorn.

Da die SPD-Linke kaum ein die Wähler überzeugendes Personal aufzubieten hat, werden erfolgreiche Sozialdemokraten, die häufig dem rechten Flügel zuzurechnen sind, auf die ersten Plätze gestellt. In deren Windschatten hofft dann der linke Flügel, in Pöstchen und Mandate zu kommen, um die eigenen Vorstellungen durchsetzen zu können. Vorstellungen, die als solche bei den Wählern nur sehr begrenzt goutiert werden. Die zentralen Figuren des linken Flügels treten nicht an und nicht hervor, sondern bleiben hinter der Hecke, um von dort auf die Vorleute zu schießen. Sie ahnen zu Recht, daß kaum einer von ihnen viele Wähler zu überzeugen vermag.

Erfolgreiche Vorleute werden intern geschmäht und diffamiert.

Gerade die in der Landes- und Bundespolitik erfolgreichen Sozialdemokraten werden mit Verachtung und Schmähkritik überzogen. Das ist auch eine leichte Übung, da keiner der Nörgler jemals in die Lage kommen wird, es besser machen zu müssen.

Wir setzen nicht auf die brennenden Themen, sondern immer auf etwas daneben.

Nicht nur die Wiederzulassung linksextremistischer Aktionsräume (und deren staatliche Unterstützung) wird gefordert, auch z.B. die Abschaffung der Schuldenbremse. In der Praxis sah das so aus, daß die Linken zuerst große Teile des Wohnungsbestandes in öffentlichem Besitz verkaufen und nun wollen sie Käufer enteignen. Damit schafft linke Politik im Effekt eine zweifache Bereicherungsmöglichkeit für Immobilienbesitzer. Zunächst führen sie aber erst einmal einen Mietendeckel ein. Das führte zu einer weiteren Verknappung auf dem Wohnungsmarkt und offenbar zu einem blühenden Schwarzmarkt. Das selbst angerichtete Chaos eignet sich gut, um die Unmenschlichkeit des Kapitalismus zu illustrieren.

Das Papier des Think-Tanks der politischen Gegner schließt hoffnungsfroh, daß sich nunmehr ein über Jahrzehnte starker politischer Gegner durch eine Anverwandlung der SPD an die marxistischen und postmarxistischen Linken von selbst erledigen würde. Damit sei absehbar, daß sich die SPD politisch marginalisieren würde. Da das politische Momentum – der vormalige Genosse „Trend“ – heute eindeutig bei den GRÜNEN zu finden sei, solle man sich künftig mehr mit diesen beschäftigen als mit den Sozialdemokraten.

Soweit die Zusammenfassung des an SPD-erneuern.com zugespielten Textes. Es ist ziemlich frappant, wie konkret die Vorstellungen der politischen Konkurrenz über die Mißerfolgsfaktoren der Sozialdemokraten sind. Viele der genannten Konstellationen konnte der Blogger zu seiner Verblüffung in den letzten Monaten in seinem Umfeld beobachten. So als ob sich die regionalen SPD-Leute alle an die von unseren politischen Gegnern aufgestellten Mißerfolgsregeln halten würden.

Liebe Leserinnen und Leser, ich würde mich sehr freuen, wenn die von unseren politischen Gegnern genannten Elemente der Entwicklung der Sozialdemokratie nicht wirklichkeitswirksam wären, sondern die SPD einen mehrheitsfähigen politischen Kurs einschlüge. Daran sollten wir arbeiten.