Pazifisten für Putin

Karikatur: Klaus Stuttmann (Danke!)

Gegen Ende April 2022 wurde von einer Berliner Zeitung ein offener Brief einiger Intellektueller zu Waffenlieferungen an die überfallene Ukraine veröffentlicht. Er ist vielleicht symptomatisch für einen Teil der pazifistischen deutschen Linken. Deswegen will ich ihn hier in Kursivschrift zitieren und meine Kommentare dazwischen schreiben. Vorwegschicken möchte ich, daß mindestens in Polen dieser Brief auf Entrüstung und wütende Ablehnung stieß. Das bezog sich nicht nur auf die Weigerung der Autoren, der Ukraine Waffen zu liefern, sondern auch auf die Forderung, die Sanktionen zu beenden. Polen verweisen darauf, daß Deutschland und Frankreich in den letzten Jahren die bereits bestehenden Sanktionen unterlaufen hätten, indem sie Rußland militärische Ausrüstungen lieferten. Wen wundert es da noch, daß nur 27% der Befragten einer aktuellen Umfrage in Polen darauf vertrauten, daß Deutschland ihnen im Falle einer russischen Aggression beistehen würde?

Hier nun der Brief mit meinen Kommentaren:

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Scholz,

wir sind Menschen unterschiedlicher Herkunft, politischer Einstellungen und Positionen gegenüber der Politik der NATO, Russlands und der Bundesregierung. Wir alle verurteilen zutiefst diesen durch nichts zu rechtfertigenden Krieg Russlands in der Ukraine. Uns eint, dass wir gemeinsam vor einer unbeherrschbaren Ausweitung des Krieges mit unabsehbaren Folgen für die gesamte Welt warnen und uns gegen eine Verlängerung des Krieges und Blutvergießens mit Waffenlieferungen einsetzen.

Das Ziel, den Krieg zu beenden, ist unstrittig. Bedenklich und inakzeptabel ist aber die Beendigung eines Krieges auf eine Weise, die dem Aggressor einen Erfolg verschafft. Damit würden wir gleichzeitig die Ära der völkerrechtlich basierten internationalen Politik beenden, da wieder das Recht des Stärkeren vor der Stärke des Rechts gilt. Wenn man es zudem mit auf Expansion und Imperialismus orientierten Diktatoren zu tun hat, ist es zwingend notwendig, sie in ihre Schranken zu weisen, bevor der Krieg bis an die Haustür unserer Pazifisten gekommen ist. Wohin das Modell des Appeasement führte und führt, konnten wir sehen, können wir sehen.

Die Angst, ein Krieg könnte sich in der heutigen Situation eskalieren, müssen wir aushalten und durch nüchterne Betrachtung von Potentialen und Interessen thematisieren. Wenn wir ihr nachgeben, begeben wir uns in eine Zone der Angst, in der wir unsere Freiheit verlieren.

Mit der Lieferung von Waffen haben sich Deutschland und weitere NATO-Staaten de facto zur Kriegspartei gemacht. Und somit ist die Ukraine auch zum Schlachtfeld für den sich seit Jahren zuspitzenden Konflikt zwischen der NATO und Russland über die Sicherheitsordnung in Europa geworden.

Auch in existentieller Gefahr sollten wir nüchtern bleiben und die Fakten gelten lassen. Nach dem Völkerrecht – und das ist doch der Maßstab, oder? – sind wir keine Kriegspartei, wenn wir Waffen verkaufen oder liefern. Wenn wir jetzt schon unsere Werte und Maßstäbe vor lauter Angst über Bord werfen, haben wir uns gedanklich schon ausgeliefert. Falsch ist es auch, von einem Konflikt zwischen NATO und Rußland zu schwadronieren. Bislang gingen die Aggressionen der letzten Jahre von Rußland aus. Nach dem Völkerrecht – Selbstbestimmungsrecht der Völker – kann jeder Staat souverän und frei entscheiden, welchen Bündnissen er beitritt. Wer sich einem aggressiven imperialistischen Nachbarn gegenüber sieht, ist schnell geneigt, ein starkes Bündnis einzugehen (siehe Finnland und Schweden). Wer das Völkerrecht mit Füßen tritt, der mag Rußland „seine“ Einflußzonen zugestehen. Wir aber nicht.

Dieser brutale Krieg mitten in Europa wird auf dem Rücken der ukrainischen Bevölkerung ausgetragen. Der nun entfesselte Wirtschaftskrieg gefährdet gleichzeitig die Versorgung der Menschen in Russland und vieler armer Länder weltweit.

Auch hier wird offenbar nicht genau hingesehen, sondern nach ideologischen Vorurteilen formuliert. Gerade Deutschland hat über viele, zu viele Jahre mit Rußland gewirtschaftet, auch als klar war, daß die Profite aus der Wirtschaftskooperation in die Aufrüstung Rußlands und die Finanzierung seiner verbrecherischen Kriege in Europa, im Nahen Osten und offenbar auch in Afrika dienten. Also: Von einem „Wirtschaftskrieg“ zu reden ist die Sprachregelung des Kremls. Wir sind nicht mehr bereit, mit Rußland zu handeln und das Putin-Regime dadurch in die Lage zu versetzen, unermeßliche Zerstörungen und Morde zu begehen. Wenn Putin andere – friedliche – politische Ziele hätte, könnten wir uns gerne in der Bekämpfung des Hungers in der Welt gemeinsam engagieren. Ist aber nicht der Fall.

Zudem: Aus dem ganzen Text spricht ein defizitäres Demokratie-Verständnis: Wir haben für unsere Familie, für unseren Staat und für unsere politischen Bündnisse eine primäre Verantwortung und abgestufte Einflußmöglichkeiten. So unangenehm es ist, aber das russische Volk ist für die Gestaltung seines Staates letztlich selbst verantwortlich. Wenn ihr Staat andere überfällt, können wir die Russen nur begrenzt vor den Konsequenzen ihres Tuns in Schutz nehmen. Ihr diktatorischer Präsident wurde immerhin mehrfach gewählt, wenn auch keinesfalls unter „lupenreinen“ demokratischen Bedingungen.

Berichte über Kriegsverbrechen häufen sich. Auch wenn sie unter den herrschenden Bedingungen schwer zu verifizieren sind, so ist davon auszugehen, dass in diesem Krieg, wie in anderen zuvor, Gräueltaten begangen werden und die Brutalität mit seiner Dauer zunimmt. Ein Grund mehr, ihn rasch zu beenden.

Wer möchte den Krieg nicht sofort beenden? Doch angesichts der Kriegsziele des putinistischen Rußland, die in der Vernichtung des ukrainischen Staates und seiner (wahrscheinlich nicht vollkommenen) demokratischen Gesellschaft besteht, kann man nicht zurückweichen. Leider ist es sehr viel wahrscheinlicher, daß es die berichteten Kriegsverbrechen gab und es ist recht unwahrscheinlich, daß es sie nicht gab. Es entspricht nicht den Menschenrechten und unseren europäisch-transatlantischen Werten, Millionen von Menschen einem brutalen Unterdrückungsregime auszuliefern. Was einer ukrainischen Gesellschaft unter Herrschaft des putinistischen Rußland blüht, haben wir in den letzten Jahren in den von Rußland bereits seit 2014 besetzten Ostbezirken der Ukraine sehen können. Wer wollte es sehen? Offenbar unsere Briefschreiber nicht. Die ukrainische Zivilgesellschaft sah aber genau hin und sagte: Nie wieder! So nicht!

Der Krieg birgt die reale Gefahr einer Ausweitung und nicht mehr zu kontrollierenden militärischen Eskalation ‒ ähnlich der im Ersten Weltkrieg. Es werden Rote Linien gezogen, die dann von Akteuren und Hasardeuren auf beiden Seiten übertreten werden, und die Spirale ist wieder eine Stufe weiter. Wenn Verantwortung tragende Menschen wie Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, diese Entwicklung nicht stoppen, steht am Ende wieder der ganz große Krieg. Nur diesmal mit Atomwaffen, weitreichender Verwüstung und dem Ende der menschlichen Zivilisation. Die Vermeidung von immer mehr Opfern, Zerstörungen und einer weiteren gefährlichen Eskalation muss daher absoluten Vorrang haben.

Es ist gut, wenn wir aus der Geschichte lernen wollen. Doch auch hier gilt: Genau hinsehen. Wer den russischen Überfall von 2014/2022 auf die Ukraine mit der Situation von 1914 irgendwie vergleicht ohne zu sagen, daß sie unvergleichbar sind, weil die Gemeinsamkeiten sehr gering sind, desavouiert sich selbst ob seiner mangelhaften Geschichtskenntnisse. Hier wird nicht rational argumentiert, sondern hier werden Ängste geschürt. Auf den 1. Weltkrieg kann man das Modell einer Spirale der Eskalation vielleicht anwenden, auf den 2. Weltkrieg oder den putinistischen Überfall auf die Ukraine jedoch nicht. In den letzteren Fällen haben wir es mit einem Aggressor zu tun, der mit allen verfügbaren Mitteln vorging. Diesen Aggressor zu stoppen, sollte man in einem möglichst frühen Stadium versuchen. Im aktuellen Fall eben nicht erst, wenn Polen und die baltischen Staaten überfallen werden. Im Übrigen: Auch im Hinblick auf die „roten Linien“ schauen die Briefeschreiber nicht genau hin. Es werden derzeit eben keine roten Linien von den demokratischen Staaten gezogen, um jeden Eskalationsautomatismus zu vermeiden.

Im Hinblick auf die Wertehierarchie ist übrigens interessant, daß behauptet wird, eine „Vermeidung von immer mehr Opfern, Zerstörungen und einer weiteren gefährlichen Eskalation muss daher absoluten Vorrang“ haben. Damit unterliegen sie jedem Aggressor, der die Freiheit zerstört und die Gesellschaften unterdrückt. Die Ukrainer haben sich aber entschieden, daß es Werte gibt, die man verteidigen muß, um eine lebenswerte Gesellschaft zu haben. Das sehen die Briefschreiber offenbar anders, sollten es aber nicht den Angegriffenen aufzuoktroyieren versuchen.

Trotz zwischenzeitlicher Erfolgsmeldungen der ukrainischen Armee: Sie ist der russischen weit unterlegen und hat kaum eine Chance, diesen Krieg zu gewinnen. Der Preis eines längeren militärischen Widerstands wird ‒ unabhängig von einem möglichen Erfolg ‒ noch mehr zerstörte Städte und Dörfer und noch größere Opfer unter der ukrainischen Bevölkerung sein. Waffenlieferungen und militärische Unterstütz­ung durch die NATO verlängern den Krieg und rücken eine diplomatische Lösung in weite Ferne.

Also, mal ehrlich, wir sind ja alle seit dem 24. Februar zu Militärexperten geworden, die Potentiale und Zahlen militärischer Strukturen locker verstehen und vergleichen können, nicht wahr? Spaß beiseite: Die ukrainische Armee kämpft erstaunlich erfolgreich und das zählt. Natürlich ist sie irgendwie der russischen unterlegen, doch hier zählt das Ergebnis: Die russische Armee hat sich im Westen vor Kiew zurückgezogen, im Osten kommt sie zwar voran, aber nicht im entferntesten so wie sie es plante, stellenweise wird sie von den Ukrainern wieder zurückgedrängt. Und: Sie hat große Verluste an Soldaten und Waffen. Die von den Russen angerichteten Zerstörungen sind immens, doch wer die Beispiele von Grosny und Aleppo kennt, ist nicht überrascht. Massaker und Mißhandlungen von Zivilisten gehören auch zum Arsenal der russischen Armee. Angesichts dessen zu fordern, den militärischen Widerstand aufzugeben, ist so paternalistisch wie zynisch. Die Ukrainer wissen, daß sich ihr Leben im Krieg nur in den Dimensionen des Schreckens vom Frieden eines Lebens unter putinistischer Herrschaft unterscheidet, nicht aber in der Qualität. Wenn sie bereit sind, militärischen Widerstand zu leisten und auch angesichts der Risiken und Folgen durchzuhalten, dann ist es nicht an uns, ihnen zu sagen, was sie tun oder lassen sollten.

Es ist richtig, die Forderung „Die Waffen nieder!“ in erste Linie an die russische Seite zu stellen. Doch müssen gleichzeitig weitere Schritte unternommen werden, das Blutvergießen und die Vertreibung der Menschen so schnell wie möglich zu beenden.

Die Forderung „Die Waffen nieder!“ an einen wie Putin zu richten, ist so naiv wie wirkungslos. Falls sie an die Ukrainer gerichtet sein sollte, so drückt dies auch eine Ignoranz gegenüber elementarsten (demokratischen) Werten aus. Wann der Angegriffene die Waffen aus der Hand legt, sollte er selbst entscheiden dürfen. Den gutmenschlichen Ruf: „Ergib‘ Dich!“ an ihn zu richten, spricht ihm das elementare Recht auf Selbstbestimmung ab und ich empfinde es auch als Ausdruck einer paternalistischen Besserwisserei, die in der politischen Linken recht weit verbreitet und von der Überzeugung getragen ist, zu wissen, was für den Anderen (hier: die Ukrainer) gut ist.

So bitter das Zurückweichen vor völkerrechtswidriger Gewalt auch ist, es ist die einzig realistische und humane Alternative zu einem langen zermürbenden Krieg. Der erste und wichtigste Schritt dazu wäre ein Stopp aller Waffenlieferungen in die Ukraine, verbunden mit einem auszuhandelnden sofortigen Waffenstillstand.

Was hätte Churchill zu so einer Aussage im Sommer 1941 angesichts der damaligen Problemlage gesagt? Hätten er und Roosevelt auf die Unterstützung der Sowjetunion verzichten sollen, um den Krieg zu verkürzen? In einer Situation, in der alles Mögliche erkennbar ist, nur nicht der Wille des Aggressors, seine kriegerischen Handlungen zu beenden, ist die Forderung unserer Friedensfreunde ein kaum zu überbietender Ausdruck eines Versagens gegenüber einer moralischen Maxime: Jemandem Bedrängten zur Seite zu stehen, bis er den Bedränger wieder abschütteln kann und ihn stattdessen aufzufordern, sich auszuliefern.

Wir fordern daher die Bundesregierung, die EU- und NATO-Staaten auf, die Waffenlieferungen an die ukrainischen Truppen einzustellen und die Regierung in Kiew zu ermutigen, den militär­ischen Widerstand ‒ gegen die Zusicherung von Verhandlungen über einen Waffenstillstand und eine politische Lösung ‒ zu beenden. Die bereits von Präsident Selenskyi ins Gespräch gebrachten Angebote an Moskau ‒ mögliche Neutralität, Einigung über die Anerkennung der Krim und Referenden über den zukünftigen Status der Donbass-Republiken ‒ bieten dazu eine reelle Chance.

Diese Forderung dient nur scheinbar dem Frieden, vor allem dem guten Gewissen derer, die sie aufstellen. Sie ist aus einer Haltung moralischer Überheblichkeit und einem kolonialistischen Blick auf die Ukraine formuliert, die alle Rechte des ukrainischen Volkes auf Selbstbestimmung und ein demokratisches und friedliches Leben mit Füßen tritt. Was die Ukrainer in die Verhandlungen einbringen und wann sie es einbringen, ist ihre Sache. Wir unterstützen sie, so wie sie es wollen und mit Augenmaß (!). Ignorant ist es zudem, immer noch den Eindruck zu erwecken, daß das putinistische Rußland sich an Verträge halten würde oder sich auch auf der Basis von Gesprächen zurücknehmen könnte. Dazu gibt es nach über 20 Jahren Putinismus leider keinen Anlaß. Vollkommen realitätsfern ist der Vorschlag für ein Referendum im Donbaß, nachdem die Bevölkerung dort vertrieben oder zwangsrussifiziert oder in Kerker gesteckt oder deportiert worden ist. So ein Referendum kennen wir von der Krim 2014 und ist deswegen erst dann denkbar, wenn Putins Armee und Söldner allesamt wieder in Rußland stehen. Hinter der ukrainischen Grenze. Unter Putins Stiefel wird jedes Referendum zur Farce. Also: Die Forderung ist in der jetzigen Lage völlig abwegig und stärkt Putins Position.

Verhandlungen über den raschen Rückzug der russischen Truppen und die Wiederherstellung der territorialen Integrität der Ukraine sollten durch eigene Vorschläge der NATO-Staaten bezüglich berechtigter Sicherheitsinteressen Russlands und seinen Nachbarstaaten unterstützt werden.

Dazu kann man nur sagen: Verhandlungen oder Friedenslieder werden ähnlich effektiv die Russen wieder hinter ihre Grenzen bringen. Dazu bedarf es nach allen Erfahrungen etwas überzeugenderer Argumente (s.o. zur Vertragstreue). Der Linie russischer Desinformation wird gefolgt mit der Behauptung „berechtigter Sicherheitsinteressen“ Rußlands. Aus diesen „berechtigten Sicherheitsinteressen“ hat Rußland eine Vielzahl Kriege nach 1990 geführt, ich nenne nur ein paar Stichworte: Tadschikistan, Georgien, Tschetschenien, Dagestan, Kaukasus/Südossetien, Krim, Ukraine, Syrien, Kasachstan. Interessanterweise wurde Rußland nie von einem westlichen Staat oder der NATO angegriffen, sondern war immer der Aggressor. Wer also von „berechtigten Sicherheitsinteressen“ sprechen möchte, sollte zuerst die Sicherheitsinteressen der Nachbarstaaten Rußlands zur Kenntnis nehmen, die Rußland oft bedroht und auch mal überfällt. Kein Wunder, daß die Ukraine und Georgien in die NATO wollten, so wie es nun Finnland und Schweden machen wollen. Und: Die NATO dehnt sich nicht aus, sondern souveräne Staaten möchten beitreten. Wer das anders sieht, negiert das Völkerrecht und bedient die putinistische Propagandalinie.

Um jetzt weitere massive Zerstörungen der Städte so schnell wie möglich zu stoppen und Waffenstillstandsverhandlungen zu beschleunigen, sollte die Bundesregierung anregen, dass sich die derzeit belagerten, am meisten gefährdeten und bisher weitgehend unzerstörten Städte, wie Kiew, Charkiw und Odessa zu „unverteidigten Städten“ gemäß dem I. Zusatzprotokoll des Genfer Abkommen von 1949 erklären. Durch das bereits in der Haager Landkriegsordnung definierte Konzept konnten im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Städte ihre Verwüstung verhindern.

Nach den Erfahrungen mit der Regeltreue Rußlands fragt man sich, wie die Briefschreiber noch auf die Idee kommen konnten, Rußland könnte sich ohne dazu mit militärischen Mitteln genötigt zu sein, an irgendeine Vereinbarung halten? Oder gar an das Genfer Abkommen? Butscha ist leider nicht der einzige Ort, an dem Kriegsverbrechen ganz offensichtlich geschahen. Die russische Armee führt ja auch keinen „Krieg“, an dessen Regeln man sich halten könnte, sondern agiert im Rahmen einer „militärischen Spezialoperation“ (echter NKWD-Sprech), in der Exzesse und Regellosigkeit die Regel sind. Wer also so eine Forderung – wie oben – aufstellt, fordert die Ukrainer auf, sich den Russen zu ergeben. Abwegig erscheint auch die Annahme, Kiew, Charkiw und Odessa seien „bisher weitgehend unzerstörte Städte“. Nun, wer Aleppo oder Mariupol als Maßstab nimmt, mag vielleicht zustimmen…

Die vorherrschende Kriegslogik muss durch eine mutige Friedenslogik ersetzt und eine neue europäische und globale Friedensarchitektur unter Einschluss Russlands und Chinas geschaffen werden. Unser Land darf hier nicht am Rand stehen, sondern muss eine aktive Rolle einnehmen.

Diese Floskeln sind wohl Konsens für Friedensbewegte, denen der Mut fehlt, „dem Rad in die Speichen zu greifen“, wie Dietrich Bonhoeffer das einmal formulierte. Wir hatten eine „europäische und globale Friedensarchitektur“ und die gilt es nun zu verteidigen und nicht nur zu beschwören. Wenn einer gegen diese völkerrechtliche Friedensarchitektur verstößt, ohne daß dies sanktioniert und zurückgewiesen wird, dann ist sehr schnell diese „Friedensarchitektur“ nur noch Makulatur. Wer glaubt, wie Chamberlain einen imperialistischen Aggressor stoppen zu können, der irrt sich. Erfolgreich war dann erst Churchill. Mit Mut und Augenmaß. Er hat ja dann auch wichtigen Einfluß beim Aufbau der europäischen und globalen Friedensarchitektur genommen.

Irritierend bleibt zum Schluß aber noch der Eindruck, daß hier deutsche Linke das putinistische Rußland irgendwie in Schutz nehmen und diesem autoritären und imperialen Staat irgendwie geartete Sympathien entgegenbringen. Den Ukrainern hingegen viel weniger zugetan sind, weil sie sagen: So nicht. So wollen wir das nicht. Nie wieder.

Nachtrag, 8. Mai 2022:

Mittlerweile hat ein offener Brief um die „Emma“-Herausgeberin Alice Schwarzer, der genauso argumentiert, wie der hier besprochene Text, eine weitere Öffentlichkeit erreicht. Wie falsch die in jenem Brief genannten Behauptungen sind, hat Heinrich August Winkler sehr pointiert ausgeführt. Was wir daraus lernen? Daß man die Geschichte schon genau kennen sollte, um überhaupt etwas (vielleicht) aus ihr lernen zu können. Andernfalls wird sie nur zum Steinbruch für Versatzstücke, mit denen wir die eigenen Vorurteile und Ideologeme zu bestätigen suchen. Damit kann man dann alles Beliebige begründen, einen Überfall auf die Ukraine (Putin) oder die Forderung, sich der Gewalt zu ergeben (pazifistische Schreiber offener Briefe). Offenbart werden mitunter auch Selbstgerechtigkeit und Hybris…

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