Jetzt gerät es in Bewegung. Eine revolutionäre Situation ist da!
Die drei „objektiven Merkmale“ einer revolutionären Situation sind nach Lenin (in: Der Zusammenbruch der II. Internationale):
- „Die Unmöglichkeit für die herrschenden Klassen, ihre Herrschaft in unveränderter Form aufrechtzuerhalten; diese oder jene Krise der ‚Spitzen‘, Krise der Politik der herrschenden Klasse, die einen Riß erzeugt, durch den die Unzufriedenheit und Empörung der unterdrückten Klassen hervorbricht.“
- „Verschärfung der Not und des Elends der unterdrückten Klassen über das gewohnte Maß hinaus.“
- „Beträchtliche – aus den angeführten Ursachen sich herleitende Steigerung der Aktivität der Massen, die durch die Verhältnisse der Krise zur […] selbständigen historischen Aktion herangezogen werden.“
Klarer Fall, die Situation trifft auf das Schulsystem voll und ganz zu. Die Unmöglichkeit der herrschenden Klassen der Lehrer, ihre Herrschaft in den Schulen und Klassen in unveränderter Form aufrecht zu erhalten. Verschärfung der Not der unterdrückten Schülerschaft in Schulen und Schulhöfen. Beträchtliche Steigerung der Aktivität der Massen von Schülern, … die zu selbständigen historischen Aktionen herangezogen werden. Das trifft alles auf das Schulsystem in Deutschland zu. Die Revolution ist da! Hervorgerufen durch einen mikroskopisch Kleinen Erreger namens Sars cov-2.
In den letzten Tagen mutierte unsere Kleinfamilie zur revolutionären Zelle. Was am hinhaltenden Widerstand der herrschenden Klasse der Lehrer über mehr als drei Jahre immer wieder gescheitert war, passierte nun innerhalb von drei Tagen: Die komplette Digitalisierung der deutschen Schule! Und wir erleben es mit, sind mittendrin! Was Lenin niemals gelang, ist Maos Nachfolgern gelungen: Eine Revolution in ein entwickeltes kapitalistisches Land zu exportieren, mit hundert Jahren Verspätung… Na ja.
Am Montag dieser Woche erhielten die Gymnasiasten unserer Schule die Zugangsdaten für verschiedene Webseiten-Lernsysteme, wie Schul.Cloud, Wolke7, Lernraum Berlin, mathe.bettermarks.de, sofatutor.com, isurf.eu, den genauen Überblick habe ich derzeit nicht. Unsere Schülerin schaffte es mühelos, sich mit Ihrem Telefonino bei der Schul.Cloud anzumelden, eine E-Mail Adresse gab es schon. Die ersten Aufgaben hatten die Lehrer ihr bereits mitgegeben, die weiteren fanden sich dann auf zwei oder drei Plattformen. Mit Begeisterung ging die Schülerin an die Arbeit. Tablet-PC, Telefonino, PC, Scanner, Drucker und auch die Filmkamera wurden eingesetzt. Nur eines besaß sie bis dato selbst, das Telefonino, die Schule hatte sich nicht sonderlich intensiv mit Elektronik und Didaktik beschäftigt, die ganze Diskussion um eine zentrale Beschaffung von Endgeräten oder einem System nach dem Prinzip „bring your own device“ fand nicht statt. Jetzt ging es einfach los. Die Eltern besorgten für die Schülerin schnell einen PC. Anmelden mußte man sich mit dem neuen Gerät erneut bei all den verschiedenen Plattformen. Dumm nur, wenn die Schülerin einen hierfür notwendigen Code nach ihrer Anmeldung des Telefonino bei dem Lernsystem verbummelt hat. Die digitale Schule stellt hohe Anforderungen an systematisches Arbeiten, Ordnung in der Informationsorganisation und technischem Verständnis.
Die ersten Aufgaben wurden ausgedruckt, Arbeitsblätter ausgefüllt, dann als gescannte Datei an die Lehrer verschickt. Mathe-Aufgaben auf einer besonderen Website gelöst, die sofort einen Feedback gab und dem Lehrer es möglich macht, die Leistungen seiner Schüler in einer statistischen Auswertung sofort zu sehen, ohne selbst korrigieren zu müssen. Am nächsten Morgen ging es in einen Unterrichts-Chat. Wohl der Schülerin, die schon Maschinenschreiben übte, sie ist jetzt klar im Vorteil. Die nächste Aufgabe für Musik besteht darin, mit Küchenutensilien einen Rhythmus zu entwickeln und das ganze als Film in die Schulcloud zu schicken. Zwischendurch lange Video-Konferenzen mit Klassenkameraden, um die Aufgaben zu besprechen und gemeinsam zu lösen.
Der Landeschülerausschuß Berlin hat Mitte März 2020 rund 3.200 Schüler befragt, wie sie die Schulschließungen erleben. Zwei Prozent der Schüler sagten, sie gingen nun auf Parties, 40% treffen sich mit Freunden. Aufgaben aus der Schule bearbeiten 57%, 65% lernen selbständig, 43% gehen ihren Hobbies nach (Mehrfachnennungen waren möglich). Rund 14% hatten von allen Lehrern Aufgaben erhalten, 29% erklärten, keine Aufgaben erhalten zu haben. Wenige Aufgaben erhielten 56%. Die Kommunikation findet zumeist per mail statt (78%), nur 22% nutzen die Internet-Plattform Lernraum Berlin. Das sind nun vielleicht keine repräsentativen Zahlen, doch läßt sich sehen: Schule mit digitalen Mitteln ist möglich. Wenn man es nur will und wenn man es kann. Wenn rund ein Drittel der Schüler keine Aufgaben erhalten hat, weist das auf eine erkleckliche Anzahl von Lehrern hin, die es vielleicht nicht können oder wollen.
Die Schule muß natürlich erst einmal für so eine Lernform eingerichtet sein. Dazu ist, wenn das im großen Stil funktionieren soll, ein zentrales EDV Management notwendig, die Bastel-Lösungen von engagierten Lehrern sind nicht ausreichend. Eine Schule ist einer mittelgroßen Firma vergleichbar mit einigen Hundert Mitarbeitern. Dann müssen alle Lehrer mit der Technik vertraut sein und sie anwenden. Alle Schüler ebenso und für alle müssen die Nutzerkonten und Zugänge angelegt werden. Dabei zeigte sich immer wieder eine Überlastung der Systeme, wenn die Schulcloud keinen Zugang zuließ. Geht endlich alles. Doch offenbar wurde die Digitalisierung vielfach als „vielleicht wichtig irgendwann mal“ angesehen, so daß auch in Zeiten der Geldschwemme des Digitalpaktes die Entwicklung mehr vorankriecht als voranschreitet. Das liegt sicher auch zu einem großen Teil an den liebevoll bürokratisch umständlichen Förderbedingungen des Digitalpaktes. Und sicher auch am Fehlen von EDV-Managern an den Schulen.
Die Geräte sind auch nicht unwichtig. Unsere Schülerin hatte nun bereits in der ersten Woche Gerätschaften im Einsatz, deren Anschaffung ein durchschnittliches Familienbudget nicht aus der Portokasse finanzieren kann. Die Frage der Lernmittelfreiheit stellt sich folglich ganz neu. Zudem gibt es Schulen, die sehr stolz auf ihre „Tablet-Klassen“ sind, um nach einiger Zeit festzustellen, daß die Geräte der „fruit-company“ (Forest Gump) geschlossene Systeme darstellen, die kreativere Prozesse nicht gut unterstützen. Es handelt sich hierbei insbesondere um kreative Prozesse des Schreibens. Dazu ist ein PC als ein offenes System mit einer Standard-Tastatur schlicht sehr viel besser geeignet. Die Tablets sind didaktisch gesehen eher elektronische Multiple-Choice Arbeitsblätter, wogegen der PC einem leeren Blatt Papier und einen Bleistift gleicht. Mit einem PC-kann ich kürzere und längere komplexe Texte schreiben und Gedankengänge entwickeln. Das ist mit dem Touch-Display technisch kaum denkbar.
Ein weiterer Aspekt ist in diesem Zusammenhang auch von Relevanz. Es handelt ich um die Rolle von Schulbüchern in den Lernprozessen. Nach meiner Beobachtung befinden sich die Schulbücher seit Jahren entweder im Spind, im Regal oder unter dem Kinderbett. Da liegen sie dann, weil die Lehrer ihre Schüler mit einer Vielzahl von Arbeitsblättern höchst unterschiedlicher Qualität versehen, die dann – wenn es gut läuft – in stetig dicker werdenden Heftern gesammelt und herumgeschleppt werden, oder irgendwo im Bermuda-Dreieck zwischen Schule, Schulweg und Kinderzimmer verloren gehen. Schulbücher sind irgendwie out. Dabei könnte anhand von diesen ein Lernprozeß transparent gestaltet werden und würde nicht nur akzidentiell als Arbeitsblatt mit dem Datum von heute wahrgenommen werden. Es wäre möglich, daß der Schüler Selbständigkeit entwickelt und und den Lernstoff eigenständig wiederholt, es wäre möglich, daß Eltern den Lernprozeß begleiten, weil sie sehen, welches Thema dran ist und sich im Zweifelsfall am Schulbuch orientieren können. Aber nein, die Didaktik atomisierter Lernprozesse ist vorherrschend. Im Zusammenhang mit digitalem Lernen finde ich Schulbücher noch wichtiger. Als Nachschlagewerke, als Leitfäden, die die einzelnen Wissensfetzen der Lektionen zusammenbinden, als ein Medium, auf das man sogar bei Stromausfall zurückgreifen kann, als ein intellektuelles Konstrukt zu einem Thema, das sich als Gesamtsystem präsentiert. Also: Entstaubt die Schulbücher! Und an die Schulbuchverlage: Konzipiert Schulbücher so, daß sie das Zentrale zusammenfassen, wie z.B. die literarischen Texte, die für die Klassenstufen 7 bis 9 eine Rolle spielen können, baut die Übungshefte um, daß sie teilweise digital zu bearbeiten sind und druckt eine Grammatik, die auf die anderen Elemente bezogen ist, aber auch allein verständlich. Grundsätzlich gilt: Lernen ist ein intellektueller Prozeß (weniger ein technischer) und sollte auch bei Kerzenlicht im Funkloch stattfinden können. Schulbücher nach dem Prinzip des Potpurri, die in Deutsch einen Kessel Buntes liefern, sind nicht hilfreich. Im Hinblick auf das Fach Geschichte ist vielleicht das neue Geschichtslehrwerk „Europa. Unsere Geschichte“, dessen polnische Version insbesondere Informationen aus dem Internet einbezieht, ein Beispiel, das zeigt wohin die Entwicklung gehen könnte.
„Die Corona-Krise ist eine Chance für digitales Lernen und bessere Elternarbeit“, meinten Dieter Dohmen und Klaus Hurrelmann unlängst. Der ersten These ist uneingeschränkt zuzustimmen. Die zweite These von der besseren Elternarbeit ist zwiespältig, mit einer Tendenz ins Zynische. Nach unseren Erfahrungen: Wenn es, zumindest in der Startphase, keine Unterstützung der Eltern gibt, wird es schwierig, das komplexe System aus Geräten, Kommunikationsmitteln und Lernplattformen zum Funktionieren zu bringen. Wir habe es hier in der Regel mit Kindern in Grundschulalter oder zu Beginn der Sekundarschulausbildung zu tun (Die älteren schaffen das sicher selbst). Dazu müssen die Eltern ansprechbar und anwesend sein. Doch angenommen, die Situation sieht so aus, daß ein Elternteil sich um die Kinder kümmern kann, hat vielleicht drei Kinder im Kindergarten- und Grundschulalter. Dann geht es sicherlich sehr häufig hoch her, wenn zwei durch die mehr oder minder kleine Wohnung toben, während einer die Schulaufgaben erledigen soll. Schön auch die Vorstellung, daß per Mail eine didaktische Anweisung zum Schreiben-Lernen für den 2.-Klässler eintrudelte mit der die Eltern auf Basis ihrer eigenen Ausbildung und sozialen Situation wirklich nichts anfangen können. Also sollten wir davon ausgehen, daß es eine ganze Weile dauern wird, bis sich eine Mehrzahl der Familien auf häuslichen Unterricht hat einstellen können. Der Haushalt des Bloggers jedenfalls ist zur Zwergschule mutiert. Politisch stellt sich dann die Frage, wie man Chancengleichheit herstellen kann, wenn es im Lernprozess nun auf einmal ganz entscheidend auf das Elternhaus ankommt. Diese Anforderung konterkariert den Trend der letzten Jahre, in denen versucht wurde, durch Ganztagsschulangebote und individuelle Förderung die meßbaren schulischen Defizite und weiteren Abhängigkeiten von der sozialen Situation der Elternhäuser zu verringern. Zu diesem Thema haben wir in diesem Blog schon einiges geschrieben.
Als nächste Klippe erweisen sich die Aufgabenstellungen, die von den Schülern mitunter nicht ohne eine Konsultation mit den Eltern verstanden werden. Der Lehrer ist ja nicht anwesend und bis man ihn per mail gefragt hat, dauert es (Chat-Applikationen sind im Schulbereich verboten, es sein denn, sie sind in die Lernplattformen integriert). Und wann kommt die Antwort? Also diskutieren wir über die Problemstellung der Aufgaben in Fächern wie Geschichte und Politik und in weiteren, geben Hinweise zur Recherche und begleiten das Kind. Immer mit der Frage, was ist die Leistung des Kindes? Die Eltern sollen die Aufgaben schließlich nicht lösen, oder? Die Plattform für Mathematik erweist sich als Selbstläufer, die Aufgaben sind fast so unterhaltsam-anspruchsvoll wie beim Wettbewerb ‚Mathe-Känguru‘. Das Fazit von Dohmen und Hurrelmann: „Die Eltern werden damit mehr denn je zum Hauptansprechpartner der Kinder, was die unmittelbare Unterstützung und Begleitung beim Lernprozeß angeht.“ Klingt gut, ist aber an die Bedingung gebunden, daß die Eltern das können und auch die Zeit dafür haben. Wenn wir nun Schulen zunehmend als Ganztagsschulen organisieren und beide Eltern arbeiten, sind sie vielleicht nicht verfügbar. Zudem hat diese These (und die aktuelle Entwicklung) die Tendenz in sich, die „Elternunterstützung“ zum home-schooling werden zu lassen, was vom Bundesverfassungsgericht wiederholt abgelehnt wurde. Nach Art. 7 Abs. 1 Grundgesetz steht das Schulwesen unter der alleinigen Aufsicht des Staates. Abgeleitet wird daraus ein umfassender staatlicher Bildungs- und Erziehungsauftrag, der durch die Schulpflicht konkretisiert wird. Wenn nun im Rahmen des digitalen Lernens die Eltern zu Hilfslehrern mutieren, wird das häusliche Lernen leicht zum home-schooling. Das ist jedoch nicht vorgesehen, insbesondere soll in den Schulen auch soziale Kompetenz im Umgang mit Andersdenkenden, gelebte Toleranz, Durchsetzungsvermögen und Selbstbehauptung einer von der Mehrheit abweichenden Überzeugung eingeübt werden. Dies gelinge nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichtes noch besser, wenn Kontakte mit der Gesellschaft und Menschen mit unterschiedlichen Meinungen nicht nur gelegentlich stattfinden, sondern (schulische) Alltagserfahrungen sind. Nun, das ist im Zusammenhang des aktuellen Groß-Experiments zum digitalen Lernen nicht mehr der Fall. Wenn sich die Verwirklichung der Schulpflicht künftig zwischen schulischem und außerschulischem Lernen auch unter Einbeziehung der Eltern neu ausrichtet, das wäre schon eine Revolution.