Der Sozialstaat bestraft Geringverdiener, die mehr arbeiten wollen. So jedenfalls das Ergebnis eines Berichtes des Institutes für Arbeits- und Berufsforschung (IAB), das eine Vielzahl von Fällen, in denen Sozialleistungen in Anspruch genommen werden, untersuchte. Das für Sozialpolitiker desaströse Ergebnis: Das Sozialsystem unterstützt die Empfänger von Sozialleistungen nicht dabei, aus dem untersten Einkommensbereich herauszukommen. Es behindert oder bestraft sie sogar dafür.
Woran liegt das dysfunktionale Ergebnis der Sozialpolitik? Grundsätzlich daran, daß verschiedenste Maßnahmen des Sozialsystems nicht aufeinander abgestimmt sind. Das Ifo-Institut hat mehr als 150 (in Worten: Einhundertfünfzig) verschiedene Sozialleistungen gezählt. Sie werden jeweils nach unterschiedlichen – nicht aufeinander abgestimmten – Regeln gewährt. So kann es passieren, daß jemand, der eine bestimmte Einkommensgrenze erreicht, dann das Wohngeld oder den Kinderzuschlag gestrichen bekommt. Damit hat er zwar mehr durch eigene Arbeit verdient, aber dennoch netto weniger als zu Zeiten, als er weniger arbeitete. Paradox? Ja.
Eine junge Politikerin, Mitglied in einer Bezirksverordnetenversammlung und Berlin und Mitglied einer Volkspartei, macht nun darauf aufmerksam, daß die Familienförderung eine Schaufensterpolitik ist, die ihre Ziele nicht erreicht. Die junge Frau hat das nicht nur auf der Basis eines von der damaligen Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen in Auftrag gegebenen Berichtes, der 2012 vorgelegt wurde, durchgerechnet und analysiert. Sie resümiert, daß die Familienpolitik nach wie vor die „Normalfamilie“ – einer verdient viel Geld, der andere kümmert sich um Haushalt und Kinder vor allem – zugrundelegt und unterstützt und in Situationen, in denen beide Eltern etwa gleich viel arbeiten und verdienen oder in denen nur einer allein die Kinder erzieht, der Staat deutlich weniger unterstützt. In Deutschland würden nun zwei Familienfördersysteme nebeneinander existieren, deren Anreize jene des anderen Systems jeweils konterkarieren. Sie fordert eine Abkehr von einer Konzentration auf die Vervielfältigung finanzieller Transfers und sich den Lebensrealitäten von Familien zu stellen und die Familienpolitik komplett neu zu denken. „Familie ist überall dort, wo Eltern für Kinder und Kinder für Eltern Verantwortung tragen“, so die CDU schon 1999.
Die Autorin Jenna Behrends ist übrigens Mitglied der CDU. An diese Feststellung schließt sich sofort die Frage an: Was machen eigentlich die Jusos? Die sind in einer vergleichbaren Lebenslage wie Frau Behrends, warum beschäftigen die sich nicht einmal mit so einer Frage wie der Wirksamkeit familienpolitischer Maßnahmen? Man ist geneigt anzunehmen, daß da einige vor allem auf die Weltrevolution hinarbeiten und sich mit derartigen Kleinigkeiten nicht abgeben möchten.
Die Zuständigkeit für Sozialpolitik liegt in Deutschland bei mehreren Ministerien, die in den letzten Jahrzehnten offenbar keine interministerielle Arbeitsgruppe unterhielten, in der einzelne Maßnahmen aufeinander abgestimmt wurden. Das Finanzministerium ist für die Höhe der Steuern zuständig, das Arbeitsministerium für Hartz IV, das Familienministerium für Kinderzuschlag, Schulausflüge und Musikunterricht, das Innenministerium für das Wohngeld. Natürlich ist die Abstimmung der vielen einzelnen Leistungen schwierig und vor allem ist klar: Eine Harmonisierung, die niemandem etwas wegnimmt, wird recht teuer. Darf es sich eine Partei, die sich Sozialdemokratische Partei nennt, erlauben, in dieser Problemlage minimalistisch nur einzelne Stichworte in die Debatte zu werfen wie „Bürgergeld“? Ohne die Funktionsweise des Ganzen in den Blick zu nehmen? Ausgerechnet die FDP und die Grünen haben sich intensiver mit dem Problem beschäftigt, das ja eine erkleckliche Anzahl von Wählerinnen und Wählern betrifft. Sie haben das Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung um Unterstützung gebeten, um verschiedene Konzepte durchzurechnen. Ausgerechnet die Partei, die mit Parolen von sozialer Gerechtigkeit Wahlen gewinnen wollte und contra-intentional krachend verlor, übt angesichts der Unübersichtlichkeit sozialpolitischer Maßnahmen vornehme Zurückhaltung? Auch in Anbetracht der Tatsache, daß in der sozialdemokratischen Ethik der Faktor „Arbeit“ immer Zentrum der Selbstverwirklichung des Individuums war und deswegen alles daran zu setzen ist, daß „Arbeit“ mit „Erfolg“ verbunden ist – und nicht mit Verlusten beim Nettoeinkommen, wie oben geschildert.
Wenn nun die SPD-Führung neue, reichlich kostspielige Sozialleistungen verspricht: Mehr Wohngeld, ein „Bürgergeld“, eine Kindergrundsicherung, Ältere sollen künftig drei statt zwei Jahre lang Arbeitslosengeld erhalten, dann macht sie weiter auf dem Pfad des Mißerfolges. Der heißt Identitätspolitik und verspricht irgendwie definierten und identifizierten sozialen Gruppen ein mehr an Geld und Unterstützung. Ohne das Ganze systematisch in den Blick zu nehmen und mit dem dann erarbeiteten Ergebnis, das Widersprüche und Fehlanreize korrigiert, um gesellschaftliche Mehrheiten zu kämpfen. Das wäre doch mal was.
„Woran liegt das dysfunktionale Ergebnis der Sozialpolitik?“ Daran, dass die unteren und mittleren Einkommensschichten sich gegenseitig subventionieren und die Reichen sich raushalten. So wird das nichts. Aber das heißt „Neiddebatte“ und davor verschließt die SPD die Augen.
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