In den letzten Jahren war es üblich, einfach die Führungsperson (mit der Frage von Führung in der Demokratie und demokratischen Parteien sollten wir uns später nochmal befassen…) auszutauschen, wenn die SPD im Bund oder in den Ländern nicht so erfolgreich war, wie erwartet. Daraus spricht eine naive Autoritätsgläubigkeit: Der (oder die) wird’s schon richten. Der Vorgänger hat versagt, jetzt haben wir einen neuen Hoffnungsträger. Vielleicht wurde er auch noch mit 100% der Stimmen gewählt, was dann im Nachheinein sich als Höchststrafe erwies.
Beim Austausch von Führungspersonen zeigt sich jedoch auch ein Defizit an demokratischem Verantwortungsbewußtsein. Nicht nur einer, alle sind mit dabei. Mitgehangen, mitgefangen: Wer auf der lokalen Ebene Parteivertreter wählt, diese wiederum auf der Landesebene, jene auf der Bundesebene – Verantwortung ist verteilt und wird geteilt. Jeder entscheidet sich und wählt einen Vertreter oder Delegierten für die nächst höhere Ebene. Es ist natürlich etwas einfacher, auf „die da oben“ zu zeigen und ihnen Fehler oder Versagen vorzuhalten. Alle anderen im Apparat sind irgendwie exkulpiert und unschuldig für den Rest des Lebens. Es sei denn, einer von ihnen wagt sich aus der Deckung… dann wird er zur Führungsperson.
Ein ehemaliger und mittlerweile bei vielen Funktionären der Partei in Ungnade gefallener Parteivorsitzender hat das Verhältnis zwischen Partei und Wählerschaft als – in meinen Worten – Linksverschiebung beschrieben: Das politische Spektrum der potentiellen SPD-Wählerschaft liegt irgendwo im Bereich der Mitte bis hin zu linken Einstellungen, bürgerlich oder gar kleinbürgerlich. Die SPD Mitglieder haben jedoch schon ein etwas „linkeres“ politisches Bewußtsein (die Frage, was denn nun „Links“ ist, wird uns sicher später noch beschäftigen) und die Funktionäre der Partei haben mehrheitlich ein noch weiter nach „links“ verschobenes Spektrum politischer Ansichten und Meinungen. Vielleicht ist das wirklich so, wir wollen es mal als Hypothese gelten lassen. Unmittelbar sichtbar ist diese Linksverschiebung dann, wenn Spitzen-Repräsentanten z.B. des Bundesvorstandes durch ihre Äußerungen potentielle Wähler eher verschrecken als überzeugen.
Wenn nicht gerade einer vorzeitig zurücktritt, werden die Funktionen in der SPD alle zwei Jahre neu vergeben. Durch Wahl. Zunächst auf der Ebene der Ortsvereine. Das Problem des „Erneuerns“ ließe sich also schon auf dieser Ebene angehen. Indem man nicht nur neue Leute, die vor ein paar Tagen oder Wochen eingetreten sind, in die Funktionen wählt, sondern auch jene, die in der Lage sind, und das vielleicht in der Vergangenheit auch gezeigt haben, von der jeweiligen Mehrheitslinie mit überlegenswerten Argumenten Abstand zu nehmen. Erneuern, das heißt auch, daß diejenigen Funktionäre, die in den letzten zehn, zwanzig oder gar dreißig Jahren auf der lokalen oder bezirklichen Ebene die SPD-Politik bestimmten, selbstkritisch in sich gehen und sich fragen, was sie zum SPD-Desaster beigetragen haben. Wo sie nicht die Mehrheitsfähigkeit in den Blick nahmen und wo sie politische Probleme, die große Gruppen oder gar die Mehrheit der Wähler bewegten, nicht gesehen oder kleingeredet haben. Soviel Edelmut, daß ein Ergebnis dieser Selbstprüfung den Verzicht auf künftiges Einwirken zur Folge haben könnte, ist wahrscheinlich zu viel erwartet. Wäre aber dem Überleben der SPD förderlich. So sieht Erneuerung nicht aus: Die, die den Kurs die letzten zwanzig Jahre bestimmten, sorgen dafür, daß die bekannten kritischen Geister herausgewählt werden und ziehen dafür ein paar ganz neue Mitglieder in die Funktionen. Durchwählen nannte man das früher. Im Hinblick auf die Erneuerung ein bigottes Verhalten.
Ich fasse zusammen: Erneuerung beginnt von unten und wenn sich dort nicht – deutliche – Anzeichen von Erneuerung zeigen, dann beginnt sie wohl doch nicht.
Die Gruppen in der SPD, die den bisherigen Kurs bestimmten, sollten wenigstens so viel Einsicht entwickeln, daß ein „Weiter so und von allem noch ein wenig mehr“ nicht erfolgversprechend ist. Die schwedischen Sozialdemokraten waren vor einigen Jahren an einem vergleichbaren (Tief-) Punkt angelangt. Sie nahmen sich vor allem vor, zuzuhören. Auf diese Weise konnten sie eine Liste der politischen und sozialen Probleme erstellen, die die Mehrheit der Bürger bewegte. Und sie konnten diese Liste priorisieren.
Das ist nicht alles. Es braucht auch Menschen, die den Mut haben, sich vorne hinzustellen und die die Gabe besitzen, andere anzusprechen und vielleicht sogar zu überzeugen. Die müssen nicht so sprechen, wie Du und ich und Jedermann, sondern so verständlich, daß die meisten sie verstehen und so überzeugend, daß die meisten ihnen zustimmen können. Sie müssen vertrauenserweckend sein, damit sie das entwickeln, was ein erheblicher Teil der Wähler bei Politikern nicht mehr vermutet: Glaubwürdigkeit.
Spielen Kriterien der rhetorischen Überzeugungskraft, des überzeugenden Auftritts, der Fähigkeit zu führen (und nicht nur zu verführen), der Stärke, Widerstand auszuhalten und mit Feuer und Flamme nicht nur die eigenen Leute zu begeistern eine Rolle in innerparteilichen (Aus-) Wahlprozessen? Natürlich ist es wichtig, in innerparteilichen Wahlen zu gewinnen. Aber das ist nicht das Entscheidende.
Andrea Nahles ist Vorsitzende der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands.
Habemus Papam.