Ostpolitik. Mythos oder Zukunft?

Willy Brandt stand allein in einer Ecke des Reichstages und rauchte eine Zigarette. Drinnen im Saal saßen die Teilnehmer einer Konferenz der Sozialistischen Internationale, die ich im Jahr 1988 in Berlin organisierte. Ich lief den Gang entlang, auf ihn zu. Sollte ich ihn ansprechen? Jetzt war die Gelegenheit, die nie wieder kommen würde. Ich verlangsamte meine Schritte, sagte „Guten Tag, Herr Brandt“, und ging weiter. Da stand also der zweite Mann, wegen dessen Politik und Person ich in die SPD eingetreten war (Der erste ist Erhard Eppler). Blitzschnell kamen mir einige Stichworte seines Lebens und seiner Politik in den Sinn. Exil-SPD, Kampf gegen die Nazi-Großverbrecher, Bürgermeister in Berlin, Mauerbau, Kennedy, Entspannungspolitik, Vertrag von Moskau, Vertrag von Warschau, der Kniefall, die Nord-Süd-Kommission… Ich ging weiter. Brandt in diesem Moment zu stören – ich wollte nicht aufdringlich sein. Vielleicht war er auch genervt von den vielen Fans und Verehrern, die auf ihn zustürmten und ihn mit verklärten Augen anblickten?

Bis heute ist Willy Brandt ein Bezugspunkt für die SPD. Das Wort Bezugspunkt ist weit zu schwach, besser wäre: Eine der tragenden Säulen der SPD, vielleicht wichtiger als August Bebel und als Friedrich Ebert. Heute.

Oktoberrevolution

Nun streitet die SPD in diesen Tagen heftig über die Ostpolitik des Jahres 2018, die viele offenbar als von dem Vermächtnis Willy Brandts bestimmt sehen. Ostpolitik erscheint in den Argumentationen mancher dabei als ein Mythos, der zitiert wird und schon also Chiffre seine argumentative Durschlagskraft entwickeln soll. Es lohnt sich, etwas genauer hinzuschauen, nicht nur um zu vermeiden, allzu rosa-verklärend in die Vergangenheit zu schauen, sondern auch um nicht allzu blauäugig auf die Gegenwart zu blicken. Die merkwürdige Tatsache, daß es auch Sozialdemokraten gibt, die zur Sowjetunion als angeblich linkem Projekt bis heute ein ungebrochenes Verhältnis haben, möchte ich einstweilen nicht weiter berücksichtigen.

1. Die Ostpolitik hatte eine starke moralische Triebkraft, die wirksam war, ohne in jedem Moment expliziert zu werden: Der Wunsch nach Verständigung, die Hoffnung auf Versöhnung nach den unermeßlich großen Verbrechen des Vernichtungskrieges und dem damit verbundenen Völkermord am europäischen Judentum. Mit dem „Westen“ waren die Deutschen schon wieder zusammengekommen und konnten zusammenarbeiten, insbesondere mit Frankreich. Aber mit dem „Osten“ war man noch weit davon entfernt.

Heute stellt sich die Lage anders dar, auch wenn die moralische Schuld nach wie vor unser Verhältnis zu den Ländern Osteuropas und auch Westeuropas prägt. Wir waren im Prozess der Verständigung schon weit gekommen, auch die Hoffnung auf Versöhnung, die man als Geschenk nur erhoffen, nie jedoch erwarten kann, wurde in Teilen erfüllt. Viele Länder Osteuropas sind mit uns in der Europäischen Union verbunden. In den 1990er Jahren schien es, als würden wir auch mit der Russischen Föderation viele Wertvorstellungen gemeinsam haben. Wir hofften sehr auf eine Kooperaton im Rahmen der Europäischen Union mit Rußland in der komplexen und zunehmend unübersichtlicheren multipolaren Welt.

2. Zentrales Element der Konzeption von Egon Bahr und Willy Brandt waren „vertrauensbildende Maßnahmen“, mit denen den Ländern Osteuropas politisch gezeigt werden sollte, daß ihre Angst vor einem erneuten deutschen Überfall unbegründet war und ist. Dazu gehörten Abrüstungsgespräche, Gespräche über Menschenrechte im Rahmen der KSZE, dazu gehörte die Entwicklung von Wirtschaftsbeziehungen, der Versuch, gegenseitige Abhängigkeiten zu schaffen, um deutlich zu machen, daß es sich lohnt, den gemeinsamen Vorteil zu suchen. Auch die Milliarden-Kredite, mit denen sich Franz-Joseph Strauß zur Brandt‘schen Ostpolitik bekannte, zähle ich zu den vertrauensbildenden Maßnahmen, wenn sie auch mehr lebensverlängernde Maßnahmen für den real existierenden Sozialismus waren.

Heute ringen wir mit einigen osteuropäischen Staaten um vertrauensvolle Zusammenarbeit im Rahmen der Europäischen Union und mit der Russischen Föderation um die Bedingungen einer Zusammenarbeit überhaupt. Waren doch die sowjetischen Partner von Willy Brandt und Helmut Schmid kalkulierbar und erstaunlich zuverlässig was die Einhaltung von bi-nationalen und internationalen Verträgen betraf. Die aktuelle russische Führung jedoch zeigt sich an diesem Punkt, der für das Zusammenleben in Europa und der Welt zentral ist, als erstaunlich unzuverlässig und unberechenbar. Während im Budapester Memorandum 1994 im Rahmen der KSZE die Unverletzlichkeit der ukrainischen Grenzen von Rußland mit garantiert wurden, überfiel Russland die Ukraine 2014, ein paar Jahre später, und besetzte die Krim und de facto den Ostteil des Landes. Wobei eine Vielzahl von zuvor wenig bekannten Tricks ihre Anwendung fanden. Desinformation, kleine schwerbewaffnete grüne Männchen, Leugnen, so etwas wie Irreführung der internationalen Staatengemeinschaft und eine stark entwickelte Ignoranz gegenüber internationalem Recht und diplomatischen Gepflogenheiten. Dazu kam etwas später noch das Verhalten Rußlands in Syrien, die offene militärische Kooperation mit einem der skrupellosesten gegenwärtigen politischen Verbrecher, Versuche, Zwietracht zwischen den Europäern zu säen, die starken Verdachtsmomente, daß russische Hacker in diverse Computersysteme des Westens eingedrungen waren, die Verdachtsmomente von Manipulationsversuchen der Präsidentschaftswahlen 2016 in den USA, die Hinweise auf Giftgasanschläge Rußlands in England, das Verhalten im UN-Sicherheitsrat, um syrische Giftgasverbrechen zu decken. Sicher gibt es  Außenpolitik-Spezialisten, die die Liste weiter fortsetzen könnten (wie mit dem Einmarsch in Georgien oder der Bedrohung der Staaten des Baltikums). Ich fasse zusammen: Eine ganze Menge politischer Aktionen Rußlands, die wir als das genaue Gegenteil von vertrauensbildenden Maßnahmen verstehen müssen.

3. Willy Brandt und Helmut Schmidt hatten für ihre Ostpolitik berechenbare Partner auf der anderen Seite. Selbst solche Gerontokraten wie Leonid Breschnew oder Erich Honecker waren zuverlässig was die Verbindlichkeit der Absprachen und Vereinbarungen betraf, wie auch berechenbar, als daß die deutsche Politik vor allzu großen und vor allem unangenehmen Überraschungen weitgehend verschont blieb. Selbst in der Situation als die polnischen Kommunisten durch die Gewerkschaft Solidarność herausgefordert wurden, blieben die osteuropäischen Regierungen berechenbar und hielten sich an getroffene Vereinbarungen.

Heute haben wir in Hinblick auf Rußland eine Regierung, die sich seit Jahren „in Gegnerschaft zu Westen“ definiert, so Bundesaußenminister Heiko Maas. Wir haben in Rußland eine politische Elite, die mit dem Phantomschmerz des verlorenen sowjetischen Imperiums eine neo-imperialistische Politik rechtfertigt. Wir können nicht mehr sicher sein, von der Regierung Rußlands nicht getäuscht und ausgetrickst zu werden: Wir haben heute keine Partner in Moskau mehr, denen wir weitestgehend unser Vertrauen schenken könnten.

4. Der Prozeß der Ostpolitik wurde von Egon Bahr als „Wandel durch Annäherung“ beschrieben. Das funktionierte in vielen kleinen Schritten, zu denen auch das heute etwas skurril anmutende SPD-SED-Papier gehörte. Von dem sagte Erhard Eppler nach der friedlichen Revolution, es sei „abgearbeitet“… Der Wandel durch Annäherung funktionierte, weil sich insbesondere der Osten den internationalen politischen Gepflogenheiten, wie der Achtung der Menschenrechte und der politischen Legitimation durch den Volkswillen unterwarf. Der Wandel durch Annäherung bedeutete interessanterweise nicht, daß der Westen die Menschenrechte, Demokratie, die offene Gesellschaft und seine zentralen Werte leugnete. Sondern darauf setzte, daß diese Prinzipien und Werte auch jenseits des „Eisernen Vorhanges“ sehr attraktiv erschienen.

Heute kann von einem Wandel, der eine Annäherung brächte, nicht mehr die Rede sein. Es sei denn, wir wandelten uns in der Art, daß wir die moralischen und politischen Grundlagen unserer Politik in Europa Stück für Stück aufgeben würden.

5. Ein weiteres Prinzip der damaligen Ostpolitik hieß „Kooperation zum gegenseitigen Vorteil“. Dem waren Wirtschaftsprojekte geschuldet, wie das Erdgasröhrengeschäft und die langfristigen Lieferverträge für Erdgas u.a.m.

Heute ist es natürlich, daß Deutschland eine Vielzahl von Kooperationen mit Rußland auf dem Gebiet der Wirtschaft hat. Das ist ein Ergebnis und Erfolg der Brandt’schen Ostpolitik. Nur können wir heute nicht so prinzipienlos und schwach sein und alle Werte und Prinzipien ignorieren, um die Kooperation mit Rußland auszubauen um jeden Preis. Die Kooperation hat es Rußland mit ermöglicht, den Ausbau seiner Armee zu finanzieren und auf Basis einer Militärdoktrin, die nicht gerade de-eskalierend ausgerichtet ist, auch an verschiedenen Stellen einzusetzen.

Rußland hat die Erdgaslieferungen in der Vergangenheit als politisches Druckmittel eingesetzt (z.B. Im Falle der Ukraine). Die Befürchtungen osteuropäischer Staaten in und außerhalb der EU, auch unter politischen Druck von Rußland wegen der Erdgasabhängigkeit zu geraten, ist keine bloße Phantasie. Für Deutschland ist deswegen ein Projekt wie Nordstream II nicht nur ein wirtschaftliches Projekt, sondern ein politisches Projekt, das sich gegen unsere europäischen Nachbarn richten kann.

6. Die Ostpolitik von Willy Brandt war in eine enge Kooperation mit den westlichen Partnern eingebunden und wurde von diesen grosso modo unterstützt. Die Forderung nach einer großen Nachsichtigkeit gegenüber Rußland und gar einem Abbau der Sanktionen ohne daß die mit Rußland vereinbarten Schritte der Minsker Vereinbarungen von Rußland verwirklicht worden sind, stößt auf kein Verständnis der europäischen Nachbarn, insbesondere im Osten. (Die Probleme der Ukraine bei der Umsetzung von Minsk II eignen sich nicht, die russische Nichteinhaltung zu exkulpieren.)

7. Warum ist eigentlich EU-Europa so attraktiv für viele Russen? Für jene, die es sich leisten können, nach Westeuropa zu reisen, mit EU-Partnern zu handeln oder sogar sich im westlichen Europa niederzulassen (die Attraktivität von Malta ist offensichtlich darüber hinaus noch anders begründet)? Es liegt an der Sicherheit, nicht nur für das Kapital. Es liegt an der Rechtsstaatlichkeit, der Achtung der Menschen- und Bürgerrechte, den Freiheitsrechten und der in der EU unüblichen polizeistaatlichen Überwachung des Einzelnen. Wenn wir nun aber mit Ländern intensiv handeln und den Bruch von einer Vielzahl von Vereinbarungen nonchalant übersehen, unsere Reaktion (i.e. Sanktionen) auf krasse Rechtsbrüche einfach im Nachhinein als unbegründet erscheinen lassen, dann verraten wir fundamentale Werte Europas. Dann geben wir auch kampflos all jenes auf, was das westlich-europäische Modell attraktiv und erfolgreich macht.

8. Meine Skepsis gegenüber Rußland ist auch in einer historischen und kulturgeschichtlichen Sichtweise begründet. Das kann ich hier leider nicht weiter ausführen, aber auf weiterführende Lektüre hinweisen: Orlando Figes: Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Rußlands. 2003 u.ö.; Thomas Franke: Russian Angst. Einblicke in die postsojwetische Seele, 2017; Dietrich Beyrau: Krieg und Revolution. Russische Erfahrungen, 2017. Nicht zuletzt Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus, 2015.

Fazit: Ein Abbau der Sanktionen, ohne daß Rußland die vereinbarten Schritte wirklich gegangen ist, würden die auf Europa ausgerichteten Ukrainer als Verrat empfinden und die Polen und Balten als direkt gegen sie gerichtete politisch Bedrohung. Das sollten wir als Sozialdemokraten, der Brandt’schen Ostpolitik verpflichtet, unbedingt vermeiden.

Gerade die europäisch ausgerichtete deutsche Sozialdemokratie sollte die Sicherheitsbedenken und Ängste der europäischen Nachbarn im Osten gegenüber Rußland sehr ernst nehmen. Die Solidarität mit Ihnen und die Zusage, ihnen zweifelsfrei beizustehen, sollten unsere außenpolitischen Prioritäten deutlich werden lassen. Daß Sozialdemokraten darüber hinaus eine politische Distanz gegenüber imperialstischem Ausgreifen anderer Länder wahren sollten, ist für mich selbstverständlich und nicht von der Himmelsrichtung abhängig.

Warum greift die SPD nicht den Vorschlag Polens für eine Europäische Energie-Union auf? Mit dem Beharren auf Nordstream II isoliert sich die SPD nach West und Ost statt sich um den Rückhalt bei den direkten Nachbarn zu bemühen. Hier könnte die SPD zeigen, daß sie europäische Solidarität ernst nimmt und nicht mit neuzeitlichen Imperialisten kuschelt. Sondern diese ernst nimmt und ihnen ernsthaft entgegentritt. Mit einer festen Position und einem Angebot zu Dialog und Kooperation. Zum Dialog sind wir immer bereit, zur Kooperation, wenn die Bedingungen stimmen.

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