Die SPD war erfolgreich. Ist sie jetzt überflüssig geworden?

Aber wenn Politik allein aus der Gegenwart heraus gemacht wird, wenn sie ohne die Vorstellung auskommt, wie man in zwanzig, in fünfzig Jahren leben will, wenn sie nicht vom Willen beseelt ist, den eingenen Kindern und Enkeln eine bessere Welt zu hinterlassen, dann wird sie richtungslos. Politik braucht die großen Vorhaben, die Visionen und Ziele, die nicht realistisch sein mögen, aber eine Perspektive aufzeigen.

Navid Kermani

Erneuern

Das Paradoxon der SPD besteht darin, daß sozialdemokratische Konzepte die deutsche Politik seit Jahrzehnten prägten und sogar von den Konservativen übernommen wurden, doch die Partei selbst einem steten Schwund an Wählern ausgesetzt ist.

Die Ratlosigkeit ist groß und wird durch Geschäftigkeit verdeckt. Wie soll die SPD, die seit über 150 Jahren die Politik in Deutschland beeinflußte und prägte, wieder an Relevanz für eine Mehrheit der Wähler gewinnen? Dieser Frage gingen einige Autoren in der ZEIT im Frühjahr 2016 nach und formulierten erste Ansätze, die aber eher die Ratlosigkeit darstellten als sie verringerten. Da die damals diskutierten Ansätze nach wie vor die Debatte beeinflussen, sollen sie hier noch einmal kurz dargestellt werden.

Lisa Caspari vermißte eine charismatische Führungspersönlichkeit (Die Zeit, 14. März 2016), kein Bernie Sanders, kein Jeremy Corbyn in Sicht. Die SPD solle mehr Haltung zeigen. Linke, visionäre Haltung vielleicht. Die Wahl-Mißerfolge zeigten, daß die Krise der SPD noch viel tiefer ginge. Doch wie soll man Visionen entwickeln, wenn ein technokratisch-administrativer Politikstil dominiert? Und wie eine charismatische Führung entwickeln, wenn eher Mißtrauen als Unterstützungsbereitschaft die Parteikarriere, die „Ochsentour“ prägt? Die Forderung nach einer charismatischen Führungspersönlichkeit geht davon aus, daß diese durch das Wort, durch Argumente hervortreten und somit Debatten bestimmen und führen kann. Dem steht allein schon die Kultur der umfassenden Abstimmung in der SPD entgegen, nach der von einer neuen Idee zuerst intern jede und jeder informiert und um Zustimmung zu ersuchen ist. Aktuelles Beispiel ist der Berliner Landesvorsitzende, der mit dem Vorschlag eines „solidarischen Grundeinkommens“ die Debatte um Solidarität und Hartz IV bereicherte und dafür von einigen Seiten deswegen verprügelt wurde, weil er sich nicht mit allen „abgestimmt“ hätte. Wer führen will oder soll, muß ins Offene gehen, etwas wagen.

Kajo Wasserhövel plädierte für eine internationale Debatte über ein neues Jahrhundertprojekt sozialdemokratischer Politik (Die Zeit, 7. April 2016), möglichst im Rahmen einer neu zu schaffenden sozialdemokratischen europäischen Partei. Wo diese außerhalb Deutschlands zu finden sei, bleibt offen. Im Westen sind sozialdemokratische Parteien implodiert (Spanien, Griechenland, Frankreich) im Osten oft nicht mehr existent (Polen, Ungarn). Diese Lage hat sich seitdem eher verschlechtert. Nur in Schweden ist den Sozialdemokraten eine beeindruckende Reanimation gelungen. Das war möglich, weil diese viele altbackenen Glaubenssätze in Parteiarchiv legten.

Yannick Haan beklagte den enormen Einflußverlust nationalstaatlicher Politik in dessen Folge Nationalstaaten ebenso wie die SPD auch in einer tiefen Krise steckten (Die Zeit, 29. März 2016). Er forderte eine Antwort auf die Frage, wie unsere Gesellschaft in 20 Jahren aussehen solle. Beginnend mit einer Debatte über einen New European Deal zur Aufhebung neoliberaler Reformen und für einen Wirtschaftsaufschwung. Damit reproduzierte er eher linke Schablonen als einen Antwortansatz auf seine wichtige Frage zu formulieren. Das, was ehemalige SPD-Wähler dazu trieb, 2017 die AfD zu wählen, bleibt bei Haan komplett unberücksichtigt.

Christian Nürnberger konstatierte eine Erosion der Partei schon bald nach Willy Brandt durch den Verlust verschiedener politischer Milieus und das Nachgeben auf neo-liberale Pressionen im globalen Standortwettbewerb (Die Zeit, 18. April 2016). Er möchte die Herrschaft professioneller, effizienter und ideologiefreier Technokraten in der SPD beenden und die Partei wiederbeleben durch Quereinsteiger. Doch wer soll entscheiden, welche Quereinsteiger einsteigen sollen? Wenn man Leute aufs Schild hebt, die man nicht kennt und einschätzen kann, ist das Risiko recht groß. Wenn man nur mit Leuten zusammen Politik machen will, mit denen man seit mindestens zwei Jahrzehnten in inniger Freund- und Feindschaft verbunden ist, kommt aber auch nichts Neues dabei heraus.

Nico Siegel und Michael Kunert vermissen einen „Markenkern“ der SPD sowie eine Strategie, um neue Wähler zu gewinnen (Die Zeit, 25. April 2016). Ohne ein Comeback bei den jungen Wählern käme die SPD nicht aus ihrer Malaise heraus. Und die Jungen treibe die Fragen nach sozialer Gerechtigkeit, nach Arbeit sowie nach Bildung um. Sozialdemokratische Themen eben. Wenn jedoch schon etwas wie ein „Markenkern“ fehlt, wie will man dann etwas darstellen, das insbesondere junge Leute anspricht und zum Mitmachen motiviert? Bei einer Partei, die seit 1998 auf Bundesebene zehn Millionen Wähler einbüßte und deren Mitgliederzahl sich in den letzten 25 Jahren fast halbierte?

Nach den Erfolgen im 20. Jahrhundert: Keine neuen sozialdemokratischen Ziele?

Der Kopf ist rund, damit Gedanken ihre Richtung ändern können: Also anders herum gefragt: Wann war denn die SPD erfolgreich? Wie war die SPD erfolgreich? Welches waren Meilensteine ihres politischen Erfolges?

Vom Betriebsrätegesetz 1920 bis zum Betriebsverfassungsgesetz 1952 und Mitbestimmungsgesetz 1976 verantwortete die SPD einen politischen Prozeß, der sich auf einen breiten Konsens bei den Wählern stützen konnte. Mit der Ostpolitik 1969 bis 1989 gestaltete die SPD sehr erfolgreich einen internationalen politischen Prozeß, der kontrovers war und doch die Unterstützung großer Teile der Wählerschaft hatte.

Insbesondere die von der SPD vorangetriebene Bildungsexpansion seit den 1960er Jahren erfüllte das zentrale Versprechen sozialdemokratischer Politik, den Einzelnen beim sozialen Aufstieg zu unterstützen, in idealer Weise. Von 8% Abiturienten eines Jahrgangs 1960 stieg der Anteil bis in die Gegenwart auf knapp die Hälfte. Damit erfüllte die SPD das Aufstiegsversprechen, das sie seit Anbeginn an die Arbeiterklasse richtete. Die sozialdemokratischen Ziele waren erreicht, die Arbeiterklasse ist als solche stark geschrumpft.

In den genannten Fällen konnte die SPD die Ziele und Vorstellungen vieler Wähler mit ihrer Politik zu Deckung bringen und dementsprechend auch erfolgreich Wahlen gewinnen. In den Feldern einer ökologischen Herausforderung von Wirtschaft und Gesellschaft, eines Endes des Wettrüstens und der Wiedervereinigung Deutschlands verlor die SPD zunehmend den Konsens mit breiten Wählerschichten. Der Wahlerfolg von Gerhard Schröder 1998 konnte die Erosion des Konsensus zwischen SPD und Wählermehrheit nur zeitweise aufhalten, nicht stoppen.

Seit Jahren bescheinigen Parteiforscher der SPD einen Schwund ihrer Stammwählerschaft, wodurch die Ausrichtung von Wahlkämpfen auf diese zunehmend fiktionale Wählergruppe immer weniger erfolgversprechend ist.

Wenig hilfreich, ja sogar als Denkfehler, erscheint mir die heute übliche Art die Wähler in segmentierte Milieus aufzuteilen (wie z.B. im Modell von SINUS, damit beschäftigen wir uns noch später), die eine Partei mit auf diese Milieus bezogenen Politikangeboten für sich gewinnen solle. Leider zeigt die Erfahrung, daß ein kumulativer Partikularismus immer noch keine Mehrheiten ergibt. Und ein „Markenkern“ läßt sich mit dieser Methode auch nicht entwickeln. Noch schlimmer: Gerade in jenen Milieus, für die die SPD ihre Sozialpolitik formuliert, ist der Wählerzuspruch eher gering. Und: In der Formulierung einer Politik für alle denkbaren gesellschaftlichen Minderheiten geriet die größte Minderheit, die sich den erstgenannten Minderheiten nicht zugehörig fühlte, aus dem Blick. Heute steht die SPD auch vor der Aufgabe, überhaupt einen Begriff für die von ihr hauptsächlich vertretenen Menschen zu finden. „Arbeiterklasse“ war einmal, „abhängig Beschäftigte“ ist eine sehr bürokratische Vokabel.

Der heute vorherrschende Modus von Politik ist geprägt von technokratisch-bürokratischer Kleinteiligkeit. Das spricht die Mehrheit der Bürger eher nicht an, wird als Nicht-Nachvollziehbar oder gar Kontrollverlust empfunden. Viele der Themen sind auch zu spezifisch, um nicht direkt betroffene Bürger zu interessieren und zum Handeln zu motivieren. Manche als emanzipatorisch angesehene Politik erscheint dann vielen als Identitätspolitik für Minderheiten. Diese Situation ist zu einem guten Teil auch darin begründet, dass Politik heutzutage vor allem nach dem Muster der data based policy geschieht und in kleine technische Schritte gegliedert wird. Damit geht eine Reduktion des Politischen einher, gut zu zeigen an der Bildungspolitik, die im Zuge der Reformen nach PISA 2000 Bildung in Bildungsstandards quantifizierbar machte und immer weniger nach Inhalten fragt. Diese inhaltsarme Politik motiviert die Spezialisten in den Institutionen, kaum aber Bürger außerhalb dieser Institutionen. Die Bürger haben jedoch einen Anspruch darauf, als demokratische Öffentlichkeit politische Entscheidungen und Prozesse verstehen und nachvollziehen zu können.

Welche Rolle kann die Sozialdemokratie hierbei spielen?

Fortsetzung folgt.

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