Binnenperspektive und Blick von außen

Parteitage werden in der Presse häufig als Fenster beschrieben, die einen Blick ins Innenleben einer Partei ermöglichen würden. Folgen wir dieser Annahme und blicken einmal auf den letzten Landesparteitag der SPD Anfang Juni 2018 in Berlin, mit den Augen eines potentiellen SPD-Wählers und möglichen Wechselwählers, vielleicht auch jenen eines ehemaligen Stammwählers. Der Blick ist also durch zwei Brillen und vier Scheukappen gelenkt und beschränkt, jener des Journalisten und jener unseres potentiellen Wählers. Beide können wir uns nach Belieben in weiblicher oder männlicher Gestalt vorstellen.

Das Bild des Vormanns

Zunächst war die Wahl des Landesvorsitzenden von Interesse. Das ist logisch, zum einen vermittelt sich Politik und insbesondere jedes politische Thema über Personen. Man denke sich nur ein paar Namen von Politikern und sofort werden sie mit politischen Zielen assoziiert, Kohl – Aussitzen, Blüm – Rente, Leyen – Armee ohne Gerätschaften, Brandt – Ostpolitik, Eppler – Umwelt, Schily – Innere Sicherheit (Auswahl mit leichter Tendenz). Im konkreten Falle nun, ist es dem einzigen Kandidaten für den Landesvorsitz der SPD Berlin gelungen, in einem Politikfeld den Blick nach vorn zu richten, in dem – insbesondere die linke – SPD traditionellerweise im Blick zurück verhaftet war und ist: Beim Problem Sozialpolitik und Hartz IV. Michael Müller hatte vorgeschlagen, mit einem „solidarischen Grundeinkommen“ einen Teil der Hartz IV Bezieher wieder in Beschäftigungsverhältnisse zu bringen und einen Beitrag für das Gemeinwesen leisten zu lassen. Müller schaffte es mit diesem Vorschlag nicht nur, bundesweit gehört zu werden, sondern auch, die SPD nach rechts und LINKS unterscheidbar zu machen. Das gelang in den letzten Jahren nur sehr wenigen. Damit hat er das getan, was wir eigentlich von Führungspersönlichkeiten erwarten, es aber dann doch immer wieder ablehnen: Er hat den Mut gehabt, mit einer Idee ins Offene zu gehen und die Partei aufzufordern, zu diskutieren und sich auf ein zuvor noch nicht bekanntes Ziel hin zu bewegen. Es liegt in der Natur der Sache, daß man beim Führen weder immer vorher alles mit allen abstimmen kann, noch besonders auf jene Rücksicht nehmen kann, die alles lieber beim Alten lassen wollen. Und sei es auch nur, um weiterhin kräftig gegen die Agenda 2010 maulen zu können, um zu vermeiden, einen konstruktiven Vorschlag in die Debatte zu werfen. Der Kandidat Müller wurde zweifach abgestraft: Er erhielt als einziger Kandidat ein Ergebnis, das keine große Mehrheit für ihn zeigte, aber eine große Minderheit von deutlich minder mutigen SPD-Funktionären. Und zum zweiten wurde seine Idee des sozialen Grundeinkommens mit einer langen Liste von Kleingedrucktem eingehegt, die geeignet ist, den vielversprechenden Ansatz ad absurdum zu führen.

Der Eindruck des die Ereignisse verfolgenden potentiellen Wählers:

Innovationspotenzial der Idee: Hoch.

Potential im Hinblick auf gesellschaftliche Mehrheiten: Groß.

Bereitschaft zur geistigen Beweglichkeit im Erneuerungsprozeß: Nur Spurenelemente erkennbar.

PR-Faktor: Desaströs. Schlagzeile: „Das war deutlich“

Der zentrale gesellschaftliche Konflikt

Das politische Thema, das in den letzten Jahren die meisten Menschen in Deutschland bewegte, ist die Einwanderung und die Organisation der Einwanderungsgesellschaft. Das hat über viele Monate sehr viele Menschen umgetrieben, sogar auf die Straßen getrieben, und dazu geführt, daß eine Partei, die 2015 schon klinisch tot war, nun mit gruselig guten Ergebnissen in mehreren Landesparlamenten, im Europa-Parlament und seit einiger Zeit sogar im Bundestag herumrüpelt. Das hat nach meinem Eindruck auch damit zu tun, daß die Sozialdemokraten nicht mutig genug waren, auch die für weite Teile der in Deutschland lebenden Menschen mit der verstärkten Einwanderung verbundenen Probleme zu benennen. Statt der Einsicht zu folgen, „Zu sagen was ist, bleibt die revolutionärste Tat“ (Rosa Luxemburg), erging sich die SPD darin, zu sagen, was sich einige wünschten, daß es sei. Folglich lag das revolutionäre Moment nicht bei den Sozialdemokraten. Warum eigentlich? Aus ideologischer Verblendung oder aus Mutlosigkeit? Die SPD Bundestagsfraktion hat seit Jahren einen überzeugenden Entwurf für ein Einwanderungsgesetz in der Schublade. Damit ließe sich leicht Klarheit für alle, die hier leben und alle, die hierher kommen wollen, schaffen. Es bräuchte nur die Bereitschaft, es zu verabschieden und – vor allem auch – dann konsequent anzuwenden.

Die Nachrichten, die unser potentieller SPD-Wähler vom SPD-Landesparteitag wahrnimmt, handeln bezeichnenderweise nicht von dem Skandal, der von der Außenstelle des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ausging. Dort hatte eine größere Anzahl von Asylbewerbern einen positiven Bescheid erhalten, obwohl das weder der Sachlage noch der Rechtslage entsprach. Der Eindruck ist fatal und der von Bremen seine Kreise ziehende Skandal ist geeignet, die Zustimmung zu Einwanderung in Deutschland weiter sinken zu lassen. Einwanderung funktioniert, wenn sie nach transparenten Regeln geschieht und der Staat dafür sorgt, daß sie wirklich eingehalten werden. Das ist ja schon im Hinblick auf die Zahl der Ausreisepflichtigen nicht so, wie es sein müßte.

Stattdessen forderte der Landesparteitag, daß niemand, der in Deutschland geboren und aufgewachsen sei, nicht mehr abgeschoben werden dürfe, auch wenn er kriminell geworden sei. Das ist im Hinblick auf die Erfahrungen mit kriminellen jungen Erwachsenen diskussionswürdig aber sehr problematisch. Ferner warf der Parteitag der Bundesvorsitzenden der SPD, Nahles, vor, daß sie sich einer „rechten Rhetorik“ bediene. Was war der Grund? Nahles hatte geäußert – ihrer Linie folgend, die SPD näher an die Wirklichkeit heranzuführen: „Wir können hier nicht alle aufnehmen.“ Nicht alle, die hierherkommen wollten. Das entspricht in etwa dem Satz des damaligen Bundespräsidenten Gauck, wonach unsere Hilfsbereitschaft groß sei, unsere Möglichkeiten aber begrenzt. Mitunter wird auch auf das Asylrecht oder die Genfer Flüchtlingskonvention hingewiesen, die beide keinen bedingungslosen und unbegrenzten Zuzug nach Deutschland vorsehen. Es zeichnet sich ein gesellschaftlicher Konsens ab, der nur von etlichen Grünen, der überwiegenden Mehrheit der Linken und offenbar auch Teilen der SPD nicht akzeptiert wird. Das erscheint meinem potentiellen Wähler als dubios, wenn nicht unseriös. Ist doch bekannt, daß es schrecklich viele Kriege, Bürgerkriege und Regionen mit sehr schlechten Lebensverhältnissen gibt, aus denen einige Millionen Menschen fliehen oder geflohen sind. Wo sollen diese Menschen alle hin, allein diejenigen, die in Flüchtlingslagern rund um Syrien liegen, wo Assad Teile seines Volkes abschlachtet, mit Hilfe von Putin und den Iranern? Wie versteht die Parteitagsmehrheit denn Solidarität mit verfolgten Menschen in aller Welt? Nur darin, ihnen allen eine Perspektive in Europa zu eröffnen?

Innovationspotenzial der Idee: Gering.

Potential im Hinblick auf gesellschaftliche Mehrheiten: Nur aus der Binnenlogik des Parteiflügels erkennbar.

Bereitschaft zur geistigen Beweglichkeit im Erneuerungsprozeß: Nicht erkennbar. Konsequente Fortsetzung des Weges der Erfolglosigkeit.

PR-Faktor: Hoch, mobilisiert und treibt potentielle Wähler von der SPD weg.

Sexuelle Revolution

Seit Monaten denkt die SPD darüber nach, wie ein politischer Neuanfang aussehen könnte. Der Partei fehlt ein zündendes Thema, das einstige Stammwähler begeistert und ihr nicht gleich wieder von Angela Merkel weggenommen wird. Die Berliner SPD fordert nun, dass der Staat in Zukunft aus Steuermitteln feministische Pornofilme finanziert. Diese sollen dann in den Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender kostenlos verfügbar sein.(Harald Martenstein, Tagesspiegel 10. Juni 2018)

Da es mit der gesellschaftlichen Revolution etwas hapert (s.o.!) also wenigstens diese. Das Thema hat den Vorzug, daß es potentiell jeden und jede betreffen könnte. Der Landesparteitag sprach sich mehrheitlich dafür aus, „feministische Pornos“ („Dirty Diaries“) zu fördern, nach längerer Debatte offenbar. Diese Filme sollten dann über die Landeszentralen und die Bundeszentrale für politische Bildung oder – noch besser – über die Online-Mediatheken der öffentlich-rechtlichen Sender verbreitet werden. Nun weiß ich endlich, was man für seinen „Rundfunkbeitrag“ bekommen kann oder können soll.

Feministische Sexfilme zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass es „realitätsnah“ zugeht. Zum Beispiel könnte sich während des Beisammenseins die Schlafzimmertür öffnen, ein Kind steht in der Tür und sagt: „Mama, Papa, ich will nicht mehr Bob der Baumeister kucken.“ Während die Eltern hastig unter die Decke schlüpfen, beginnt das Handy zu klingeln und die Nummer des Büros leuchtet auf, außerdem schreit in der Küche die Katze nach Futter. Viele Menschen in Deutschland hätten dann, so hofft die Berliner SPD, wieder das Gefühl: „Die SPD interessiert sich für meine Alltagsprobleme. (Martenstein, a.a.O.)

Aus dieser Debatte und diesem Beschluß spricht ein überschwängliches Maß an Staatsgläubigkeit, nach der der Staatsapparat für die Lösung auch der intimsten Probleme zu sorgen hat. Welches Bild vom Bürger steht eigentlich hinter solchen Ideen? Ist der noch als frei und mündig, selbstverantwortlich und die persönlichen Grenzen achtend gedacht? Oder ist nun das Programm vollständig verwirklicht, nachdem alles Private politisch ist und die Politik alles Private regelt? War da nicht mal was? Ja, vor bald dreißig Jahren ist da so ein vormundschaftlicher Staat an seiner Regelungswut und Völkerbeglückung wegrevolutioniert worden.

Innovationspotenzial der Idee: Gering.

Potential im Hinblick auf gesellschaftliche Mehrheiten: Schwer einzuschätzen. Vielleicht findet sich ja eine Mehrheit für öffentlich-rechtliche Pornos?

Bereitschaft zur geistigen Beweglichkeit im Erneuerungsprozeß: Eher ein weiter so und von allem noch viel mehr.

PR-Faktor: Hoch. Läßt jedoch die SPD als übergriffige und wenig seriöse Partei erscheinen. Dafür werden viele über uns gelacht haben. Der Beschluß hat das Potential, zu einem Alleinstellungsmerkmal der SPD zu werden.

Wir sollten uns vom Kopf auf die Füße stellen

Mit meinem Blick von außen auf einen Landesverband der SPD möchte ich nicht abschließen, ohne die Frage nach der Skala der Relevanz und der Hierarchie der politischen Themen zu stellen. Der in dieser Situation entstandene flüchtige Eindruck besagt, daß die Ansichten von der Relevanz politischer Themen bei den SPD-Funktionären in etwa umgekehrt proportional zu den Ansichten der gesellschaftlichen Mehrheiten sind. Wenn wir also die Themenhierarchie in der SPD nicht vom Kopf auf die Füße stellen, werden wir kein Land mehr gewinnen.

Manchmal habe ich den Eindruck, die SPD befindet sich heute in einer Zeit der Zäsur und in einer Zerreißprobe, ähnlich den Jahren vor dem Godesberger Programm. Es geht darum, lieb gewordene ideologische Positionen zu überdenken, sich ein aktuelles Bild von der Wirklichkeit zu verschaffen oder zu erarbeiten und ein paar politische und gesellschaftliche Realitäten anzuerkennen. Wobei bei letzterem ein großer Teil der Funktionäre einen hohen inneren Widerstand kaum überwinden kann.

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